Das Erbrecht wird flexibler: Erblasserinnen und Erblasser können ab Januar 2023 über einen grösseren Teil ihres Nachlasses frei verfügen. Noch bis Ende Jahr stehen Kindern drei Viertel des gesetzlichen Erbteils als Pflichtteil zu. Ab Neujahr wird es nur noch die Hälfte sein. Der Pflichtteil der Eltern entfällt ganz. Der des Ehepartners bleibt dagegen unverändert.
Wie stark und in welchen Fällen betreffen diese Neuerungen auch Bauernfamilien? Die BauernZeitung fragte bei Dominic Vogel nach, Fachverantwortlicher Familien- und Erbrecht bei Agriexpert in Brugg. «Der Pflichtteil entspricht immer einem bestimmten Anteil des gesetzlichen Erbteils», antwortete der Fachmann. «Um zu bestimmen, ob jemand wertmässig seinen Pflichtteil erhält, ist nicht nur das vorhandene Vermögen zum Todeszeitpunkt relevant. Bei der Pflichtteil-Berechnungsmasse sind unter Umständen auch grössere Zuwendungen zu Lebzeiten miteinzubeziehen.»
Es handelt sich dabei zum Beispiel um Zuwendungen auf Anrechnung an den Erbteil oder solche mit Ausstattungscharakter. Ausstattungscharakter haben Zuwendungen, wenn sie dem Erben eine Existenz verschaffen, sichern oder verbessern helfen.
Bewuster Verzicht
Die Übertragung eines landwirtschaftlichen Betriebs zur Selbstbewirtschaftung stellt eine solche Zuwendung mit Ausstattungscharakter dar, wenn kein angemessener Kaufpreis dafür verlangt wird. Ein Beispiel: Beim Verkauf eines landwirtschaftlichen Gewerbes wird bewusst darauf verzichtet, eine Erhöhung des Ertragswerts vorzunehmen, obwohl kurz vor der Hofübergabe grössere Investitionen in Land oder Gebäude getätigt wurden.[IMG 2]
Ein anderes Beispiel ist die Übertragung eines Hofs zum Ertragswert, obwohl dieser kein landwirtschaftliches Gewerbe nach Art. 5 lit. a BGBB bzw. 7 BGBB darstellt. Solch ein Landwirtschaftsbetrieb ist zum Verkehrswert zu bewerten. Ertragswert und Verkehrswert weichen oft deutlich voneinander ab. Durch die Reduktion der Pflichtteile kann der Abtreter seinen Nachfolger in diesen beiden Beispielen in grösserem Ausmass begünstigen, als dies bisher möglich war.
Befindet sich der Landwirtschaftsbetrieb in der Erbmasse, so kann die Pflichtteilssetzung der übrigen Erben helfen, die Betriebsübernahme durch einen Erben leichter zu ermöglichen. Der begünstigte Erbe muss den Pflichtteilserben unter dem neuen Recht weniger ausbezahlen.
Mehr Streitigkeiten
Was sollten Bäuerinnen und Bauern daher wenn möglich besprechen oder abklären? «Das Risiko besteht in erbrechtlichen Streitigkeiten», so Dominic Vogel. Es wird allgemein angenommen, dass durch die Reduktion der Pflichtteile Streitigkeiten über den Wert von Nachlassgegenständen oder von Zuwendungen zu Lebzeiten zunehmen werden.
Aus diesem Grund ist insbesondere von Pflichtteilssetzungen kurz vor dem Tod abzuraten. Der Wunsch, einen einzelnen Nachkommen begünstigen zu wollen, sollte mit den übrigen Nachkommen frühzeitig besprochen werden. Im besten Fall kann man eine vertragliche Lösung mit allen Beteiligten finden, die einer erbrechtlichen Streitigkeit vorbeugt.
Keine Übergangsreglungen
Dominic Vogel weist zudem darauf hin, dass für das neue Recht keine speziellen Übergangsbestimmungen geschaffen worden sind. Bei bereits bestehenden Testamenten und Erbverträgen könnte es deshalb zu Streitigkeiten kommen.
Dieses Problem stellt sich, wenn der Erblasser oder die Erblasserin darin eine Pflichtteilssetzung vorgenommen hat, die Reduktion der Pflichtteile durch die Gesetzesänderung aber nicht vorausgesehen hat. Es stellt sich bei einem solchen Dokument die Frage, ob die Pflichtteilserben den höheren alten Pflichtteil erhalten oder ob der tiefere neue Pflichtteil gilt.
Schenkungen möglich?
Was ist mit Schenkungen nach Abschluss eines Erbvertrages. Darf man diese noch ausrichten?
«Das Bundesgericht war bisher grosszügig und ging davon aus, dass der Abschluss eines Erbvertrages für sich allein noch kein Schenkungsverbot für den Erblasser bedeutet», so Dominic Vogel. Nicht zulässig waren Schenkungen, wenn aufgrund des Wortlauts und der Umstände beim Abschluss des Erbvertrags von einem Schenkungsverbot auszugehen war.
Ebenso konnten Schenkungen angefochten werden, die der Erblasser in der Absicht tätigte, seine Verpflichtungen aus dem Erbvertrag auszuhöhlen. Das neue Recht schützt den Vertragserben viel stärker. Neu sind nach Abschluss eines Erbvertrages nur noch übliche Gelegenheitsgeschenke zulässig, wenn sich der Erblasser die Schenkungsfreiheit nicht ausdrücklich im Vertrag einräumen lässt.
Fragen von Dominic Vogel schriftlich beantwortet
Für weitere Informationen: www.agriexpert.ch | Telefon 056 462 52 71