Obstbäume, Geissen und ein Nutzgarten: Silvia Uehlinger und ihr Mann Bruno Dumont haben sich eine Farm mitten in der Stadt Lausanne geschaffen. Ihr kleines Reich wirkt im Herbstnebel ein wenig nostalgisch, wie aus der Zeit gefallen. Vor dem Haus stehen ein gemauerter Brotbackofen und ein ausrangierter und umgebauter Bauwagen, der als Leseecke und Sitzungszimmer dient. Beides darf das ganze Quartier nutzen.

«Ich bin gern in Kontakt mit Menschen, ich mag es, mit anderen etwas zu realisieren. Doch nun bekommt das Quartier wohl einen anderen Charakter», sagt Silvia Uehlinger. Die Agronomin deutet auf die andere Strassenseite. «Rundum werden teure Wohnungen gebaut.»

Eine Agronomin, die in der Stadt lebt, das ist für Silvia Uehlinger kein Widerspruch. «Ich bin viel auf dem Land und vor allem in der Bergregion unterwegs», sagt die 69-Jährige. Seit vier Jahren ist sie als ehrenamtliche Expertin für die Hilfsorganisation Schweizer Berghilfe tätig.

Etwas Wesentliches studieren

Zur Agronomie kam die Tochter einer Tessiner Arztfamilie aus Locarno, weil sie «etwas Wesentliches» studieren wollte. «Die Produktion von Lebensmitteln erschien mir damals als sehr ‹wesentlich›, vor allem im Pflanzenbau.» Also ging sie an die ETH nach Zürich. Kunst hätte sie ebenfalls interessiert. «Doch ich konnte mir nicht vorstellen, damit meinen Lebensunterhalt zu verdienen.» Es blieb ein Hobby.

Nach dem Studium verschlug es Silvia Uehlinger in die Forschung, an die eidgenössischen Forschungsanstalten für Landwirtschaft in Changins und Cadenazzo. «Das war zwar gut bezahlt, aber noch nicht das Richtige für mich», erinnert sie sich. Anschliessend engagierte sie sich in Bern vier Jahre als agronomische Expertin für Projekte der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe auf Madagaskar und in Ruanda.

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Da sie in Bern nie recht heimisch geworden war und ein Jobangebot lockte, zog es Silvia Uehlinger nach Lausanne. Sie arbeitete für ein Beratungsbüro, bildete sich an der Universität Neuenburg in Umweltwissenschaften weiter und lernte ihren späteren Mann kennen. Das sei in den ersten Jahren nach der Rothenthurm-Initiative gewesen, sagt die zweifache Mutter. Die nationale Volksinitiative zum «Schutz der Schweizer Moore» war 1987 mit einem deutlichen Ja angenommen worden.

Unfreundliche Begegnungen

Für das Beratungsbüro machte sie Studien, wo es Moore auf Landwirtschaftsland gab. «Ich wurde an die Front geschickt und hatte viele Kontakte mit Bauernfamilien», sagt Silvia Uehlinger. Keine einfache Arbeit. Viele Bauernfamilien waren verunsichert, welche Konsequenzen die Annahme der Initiative für ihr Land und damit auf ihr Einkommen haben würde. Denn damals war nicht klar, dass sie Direktzahlungen für den Naturschutz erhalten würden.

«Ich wurde von Bauern verbal angegriffen, mit dem Gewehr bedroht und mit Steinen beworfen», erinnert sie sich. Sie habe viel geweint und manchmal unterwegs versteckt hinter Hecken gegessen, damit kein Bauer sie sah. «Das war eine harte Zeit. Ich war traumatisiert und hatte mit der Zeit Angst vor den Kontakten.» Sie sass zwischen zwei Stühlen und versuchte zu helfen und zu vermitteln. «Doch als Frau und ETH-Agronomin, die aus der Sicht vieler Bauern keine Ahnung von der Praxis hatte, stiess ich oft auf Ablehnung.»

Wissen zur Verfügung stellen

2007 machte sie sich in Lausanne als Agronomin selbstständig und betreute fortan für verschiedene Auftraggeber Studien, Expertisen, Projekte und Beratungen in den Bereichen Landwirtschaft und Umwelt, Raumplanung und Naturschutz. Ein Job, der ihr all die Jahre Freude machte. Daher kam ihr nach der Pensionierung die Anfrage gelegen, als ehrenamtliche Expertin für die Schweizer Berghilfe zu arbeiten. «Ich fühlte mich noch fit und wollte mein Wissen zur Verfügung stellen», sagt Silvia Uehlinger, und ergänzt strahlend: «Es ist ein ganz anderes Arbeiten als früher. Jetzt kann ich helfen, dass überzeugende Projekte unterstützt werden.»

Als gebürtige Tessinerin ist Silvia Uehlinger bei der Berghilfe mittlerweile für ihren Heimatkanton zuständig und an rund drei Tagen pro Monat vor Ort unterwegs. «Dazu kommt noch einiges an Papierkram», erklärt sie. «Denn alle Gesuchsteller werden nicht nur persönlich besucht, jedes Gesuch wird auch genau geprüft und kalkuliert.» Das Kalkulieren sei nicht so ihr Ding, ergänzt sie schmunzelnd. «Ich würde gern allen etwas geben, verstehe aber, dass das nicht geht.» Zusätzlich ist sie für die Berghilfe im Projektausschuss tätig, der sich einmal im Monat trifft. «Dabei bearbeiten wir bis zu 150 Finanzierungsanfragen von Projekten.»

Das Tessin neu entdecken

Ist Silvia Uehlinger im Tessin unterwegs, schaut sie sich vor Ort bei den Gesuchstellern die tatsächlichen Gegebenheiten an, stellt Zusatzfragen, prüft, ob allenfalls Alternativen infrage kämen. «Ich bin aus dem Tessin weg, als ich 18 Jahre alt war, und entdecke nun meinen Kanton ganz neu», sagt sie. Manchmal sei sie in abgelegenen Tälern unterwegs. «Die Leute erzählen gern von ihrem Leben und ihrer Arbeit.»

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Gerade im Tessin, aber auch in anderen Kantonen, seien viele Alp- und Berglandwirtschaftsbetriebe aufgegeben worden, weiss Silvia Uehlinger. Und wer weitermacht, müsse ständig investieren. «Sei es wegen neuer Normen oder wenn es um Erweiterungen geht, die überlebenswichtig sind, damit ein Hof weiter existieren kann.» Dazu komme der Klimawandel, vielerorts ist Wasserknappheit ein Thema.

Keine Hobby-Projekte

Anders als in der übrigen Schweiz, erhält die Berghilfe im Tessin wenige Anfragen aus der Landwirtschaft, dafür mehr von kleinen Gewerbebetrieben. «Wichtig ist, dass der marktwirtschaftliche Aspekt stimmt», sagt Silvia Uehlinger. «Die Berghilfe unterstützt keine Hobby-Projekte.» Absagen sind für die Agronomin nicht einfach. «Das ist auch für mich hart. Ich bin eine Idealistin und möchte helfen, Ideen zu realisieren.»

Begeistert erzählt Silvia Uehlinger von ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit, von Müdigkeit keine Spur. Wie schafft sie sich einen Ausgleich? Da sei zum einen der Garten, sagt sie. «Und ich bin viel auf dem See.» In Lausanne hat sie das Rudern für sich entdeckt und betreut die Administration des lokalen Ruderclubs.

Der Nebel ist einem zartblauen, diesigen Himmel gewichen. Die Blüten von Borretsch und Astern leuchten in der Novembersonne, die Geissen blicken neugierig über den Zaun. Bruno Dumont stapelt Holz für den Winter. Im und um das Haus der Familie wird gelebt und gearbeitet zwischen Stadt und Land, Berg und Tal. Der erste Eindruck täuscht, das ist weder nostalgisch noch aus der Zeit gefallen.

Weitere Informationen:www.berghilfe.ch

 

Fünf Fragen
Was möchten Sie gern besser machen?
Ich bemühe mich, meine Mahlzeiten langsamer zu essen.
Was ist Ihr Rezept für Entspannung?
Rudern auf dem See und Gärtnern.
Welche Arbeit machen Sie nicht gern?
Ich tue mich schwer mit all den administrativen Arbeiten.
Was ist Ihnen in einer Beziehung wichtig?
Ehrlichkeit ist mir sehr wichtig, Lügen vertrage ich gar nicht.
Wohin möchten Sie noch reisen?
Zu den Fjorden im Norden Europas.