Meine Tante sitzt neben mir am Küchentisch, öffnet ihre Wetter-App und schüttelt den Kopf. «Sun, sun, sun», sagt sie. «Und was genau ist schlecht daran?», frage ich. «Ja, mal ein bisschen Regen oder zumindest Wolken, die danach aussehen, wäre schön», sagt sie. Logisch, denke ich mir – was für eine verkehrte Welt. Zu Hause hoffen wir auf Sonnenschein, Wärme und trockene Zeitfenster, hier ist es genau das Gegenteil. Wenn es auf ihrer südlichsten Farm im Staat New South Wales zweimal im Jahr regnet, gilt das schon als ein gutes Jahr.
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Wasser ist ein Problem, das fehlende Futter ist aber schlimmer
Wasser für so viele Tiere, wie sie halten, zur Verfügung zu stellen, ist das eine Problem. Die grössre Herausforderung vom ausbleibenden Regen ist aber das fehlende Futter in den Weiden. In harten Zeiten sind die Manager der drei Farmen meiner Verwandtschaft gezwungen, Ergänzungsfutter zu verfüttern. Dies ist aber eine sehr teure und logis- tisch schwierige Angelegenheit. Zudem treibt dieses Ergänzungsfutter aufgrund seiner nährstofftechnischen Zusammensetzung den Hunger der Tiere zusätzlich an, was gefährlich sein kann, wenn dieses Futter dann auf den Weiden fehlt.
Rinderhaltung in Australien ist ein riesiges Glücksspiel
Tierhaltung in der Halbwüste Australiens zu betreiben, wie es meine Familie hier macht, ist ein grosses Glücksspiel. Wie viele Tiere können sie zukaufen, ohne dass die Weiden zu stark unter Druck geraten? Wann können sie mit Regen rechnen? Wie viel Futter wird dieser Regen bringen? Wie hoch wird der Preis sein zum Zeitpunkt, an dem sie verkaufen müssen? Das sind grosse Fragen, deren Antworten niemand wirklich wissen kann und alle sehr stark vom Niederschlag abhängig sind.
Letztens schloss die Mafia, wie ich meine Familie hier draussen nenne, einen offenbar guten Deal mit einem Käufer aus Alice Springs ab. Alice Springs liegt fast im Zentrum Australiens. Ungefähr 20 Stunden waren dieser Farmer und sein Agent unterwegs, um die Stiere in Person zu begutachten. Wenn es um so viel Geld geht, kommen die potenziellen Käufer in der Regel persönlich vorbei. «Selling on the grounds», nennen sie das hier, «Verkauf ab Hof».
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Stiere, Staub und Cowboy-Hüte
Wir lassen den Interessenten durch die Buchten im Viehhof waten, damit er sich ein Bild der Tiere machen kann. Die Stiere rennen links und rechts an ihm und seinem Agenten vorbei. Nach wenigen Sekunden sehen wir nur noch den Cowboy-Hut des Interessenten – der aufgewirbelte Staub sättigt die heisse Luft. Mein Onkel stützt sich neben mir auf die Stahlrillen des Zauns, der den Viehhof umgibt, und vertraut mir den Betrag an, um welchen es hier bei diesem Deal geht. Unsicher, was ich darauf sagen soll, beobachten wir die Szene in Stille weiter.
Eine Weile später sehe ich, wie mein Onkel, der Interessent und sein Agent Hände schütteln, nicken und sich verabschieden. Verdeckt vor der Sicht der Männer aus Alice Springs hält mein Onkel den Daumen nach oben und zwinkert. Ich nicke leicht, drehe mich ab und verdränge ein Lächeln, während ich ein letztes Mal über die Rücken der vielen Stiere blicke, die offensichtlich gerade den Besitzer gewechselt haben.
Land an Schafhalter vermieten ist ein lukratives Geschäft
Einen Tag später geht es mit dem nächsten Job weiter. Ein Schafbesitzer ist interessiert, seine 3500 Schafe auf einem ungenutzten Teil des Grundstücks meiner Familie weiden zu lassen. «Für nur 3500 Schafe würde ich mir den Aufwand sparen», sagt meine Tante zu mir, als wir uns auf den Weg machen, um die Dämme für diese Schafe zu kontrollieren. Aber solche Deals sind interessant, weil sich der Aufwand für den Landbesitzer auf ein Minimum beschränkt und man gutes Geld für die temporäre Landnutzung verlangen kann. Also hieven wir uns in den alten Pickup ohne Klimaanlage und fahren ans andere Ende des Grundstücks. Wir sind ungefähr eine Stunde unterwegs, bevor wir überhaupt den Zaun der Weide erreichen, um die es bei dem Deal geht. Meine Tante und ich kontrollieren die Tröge, Pumpen, Dämme, Zäune und achten darauf, wie es der Vegetation hier draussen geht. Hie und da reissen wir einige Zweige von Büschen und Bäumen ab, um sie zu Hause zu identifizieren. Die Wege, wenn man sie so nennen kann, sind dürftig und steinig, und das Thermometer klettert über die Nachmittagsstunden höher und höher.
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«Alles oder nichts», sagt sie
Beim nächsten Damm, den wir kontrollieren, kann ich dem Impuls nicht widerstehen: Ich lasse meine Stiefel und Socken hinter mir, stelle mich in die schlammige Bucht des Wasserlochs und geniesse das kühle braune Nass an meinen überhitzten Füssen. «Ist das alles?», fragt meine Tante und ich weiss zuerst nicht, was sie damit meint. «Alles oder nichts», sagt sie ein paar Sekunden später und steigt mitsamt Hemd und Shorts in das braune, stehende Wasser und taucht unter. «So hat sie das gemeint», denke ich und folge ihr etwas zögerlich ins schlammige Nass. «Denkst du, hier drin hats Frösche?», frage ich sie, fast in der Mitte des Damms. «Frösche sind hier drin dein kleinstes Problem», sagt sie und taucht nochmals unter.
«Dieser Damm funktioniert», denke ich mir, als wir nach unserer Abkühlung tropfend in den heissen alten Pickup steigen und uns auf den Heimweg machen.
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Kühles Bier hinten auf der Ladefläche
Eines von vielen guten Dingen an den australischen «Bushkids», zu denen meine Mutter und meine Tante gehören: Sie bringen immer und überall genug Essen und Trinken mit – ein angeborener Überlebensmechanismus. «Hinten auf der Ladefläche hats Bier», sagt sie und beordert mich, die Kühltasche in Reichweite zu bringen. Und so kesseln wir über die sandigen Strassen nach Hause, dem Sonnenuntergang entgegen und mit viel Wind im Gesicht immer noch tropfnass. «Was will man noch mehr?», denken wir uns wohl beide, aber niemand von uns redet. Erstens, weil der Wind zu hart durch die beiden offenen Fenster brettert, und zweitens, weil wir uns ohne Worte verstehen.
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Zur Autorin
[IMG 5] Sera Jane Hostettler ist australisch-schweizerische Doppelbürgerin und arbeitete während einiger Monate auf drei Rinderfarmen in Australien. Auf einer Fläche von rund 345'000 Hektaren hält ihre Familie Kreuzungstiere der Rassen Angus, Brahman, Simmentaler, Hereford und Limousin, die zur Fleischproduktion dienen. Down Under hat die Agronomin ihre ersten Lebensjahre verbracht, bevor sie mit ihrer Familie in die Schweiz gezogen ist.