Jedes Jahr begehen in der Schweiz rund tausend Menschen Suizid, darunter auch Frauen und Männer aus der Landwirtschaft. Bei der Beratungsorganisation «Bäuerliches Sorgentelefon» melden sich «immer mal wieder» Hilfesuchende mit Suizidgedanken, wie Andri Kober aus Köniz BE, der Leiter der Hilfsorganisation, im Interview erklärt.
Andri Kober, wie reagiert man, wenn eine Person andeutet, dass sie Suizidgedanken hat?
Andri Kober: Wenn möglich einhaken und nachfragen. Denn vor einem Suizid fühlen sich die Betroffenen wie in einer Sackgasse, aus der sie keinen Ausweg finden. Ihre Gedanken sind dabei wie in einem Tunnel gefangen. Doch vielleicht gelingt es einem in einem Gespräch, sie daraus hinauszuführen, sodass sie bereit sind, Hilfe anzunehmen. Denn diese Möglichkeit gibt es immer.
Wie kann so ein Gespräch angegangen werden?
Mit guten, ehrlichen und konkreten Fragen, gerade auch, wenn man nur vermutet, dass die Person suizidgefährdet sein könnte. Zum Beispiel das Gegenüber direkt fragen: «Kann es sein, dass du Suizidgedanken hast?» Wenn die Person das bejaht, gilt es nachzuhaken: «Wie stellst du dir das konkret vor, wie willst du es angehen? Welche Auswirkungen könnte das für deine Angehörigen und andere haben? Wer findet dich?»[IMG 2]
Was können solche Fragen bewirken?
Solche konkreten Fragen helfen den Betroffenen, den Blickwinkel zu ändern. Gut ist auch, die Person zu motivieren, sich dem Hausarzt, der Hausärztin oder einer Vertrauensperson anzuvertrauen. Ruft jemand beim Sorgentelefon an, versuchen wir jeweils auszuloten, ob die Person jemanden im Umfeld hat, an den sie sich wenden kann.
Was sollte man nicht tun?
Man kann nicht viel falsch machen – ausser, wenn man urteilt. Es bringt auch nichts, dem Gegenüber Schuldgefühle zu vermitteln. Wichtig ist, den Menschen ernst zu nehmen, indem man seine Aussagen spiegelt. Zum Beispiel: «Habe ich richtig verstanden, dass du Suizidgedanken hast?» Man darf auch dazu stehen, was das in einem auslöst, etwa sagen: «Das macht mir eine Himmelangst.»
Was hilft den Angehörigen nach einem Suizid?
Da braucht es viel Raum zum Reden, reden, reden. Es geht darum, dass sie Abschied nehmen können und darum, welche Unterstützung sie brauchen. Manche fühlen sich schuldig, weil sie vielleicht mit der Person am Tag davor noch einen Streit hatten. Gespräche, eine Therapie oder ein Coaching können helfen, sich von dieser Schuld zu lösen. Denn Suizid ist ein Akt der Verzweiflung. Es ist wie bei einem Fass, das überläuft. Der Auslöser kann etwas Unbedeutendes sein, wie etwa eine unbezahlte Busse. Geschah der Suizid auf dem Hof, braucht es unter Umständen etwas wie ein «Entstörungsritual», damit sich alle wieder unbefangen dort bewegen können.
«Man kann nicht viel falsch machen – ausser, wenn man urteilt.»
Andri Kober über offene Gespräche mit gefährdeten Personen.
Wie kann so ein Ritual aussehen?
Indem ich etwa zusammen mit den Angehörigen an den Ort gehe, an dem es passiert ist, und wir dort Blumen hinlegen. Vielleicht geschah es im Tenn, vielleicht in der Werkstatt. Doch das Tenn oder die Werkstatt können nichts für die Geschehnisse, das war die Entscheidung einer Person. So ein Ritual nimmt dem Ort das Bedrohliche, er bekommt wieder eine positive Energie. Das hilft den Leuten.
Bauern wirken oft sehr geerdet. Dennoch gibt es Suizide …
Das hat wohl auch mit dem Land als solches zu tun. Die Bauern geben es von Generation zu Generation weiter, mit Stolz, aber auch mit fixen Erwartungen, die damit verbunden sind: «Du musst das können und jenes machen.» Das prägt. Aus diesen Gedanken und Vorstellungen auszubrechen, ist sehr schwierig. Die Angst vor dem Versagen ist eine grosse Last. Zudem waren die Bauern früher stärker vernetzt, sie trafen sich etwa täglich vor der Käsi. Heute sitzen viele den ganzen Tag allein mit Kopfhörern und dem Handy auf dem Traktor.
Am 10. September ist der Welttag der Suizidprävention. Wie kann man Menschen unterstützen, damit es gar nicht erst zu einer Verzweiflungstat kommt?
Man hat in der Schweiz damit begonnen, Personen, die regelmässig auf den Hof kommen, zu sensibilisieren und zu schulen, zum Beispiel Tierärztinnen oder Treuhänder. Ursprünglich stammt dieses Suizid-Präventionskonzept aus Kanada. Wenn die sogenannten «Sentinels» bei ihren Besuchen das Gefühl haben, jemandem gehe es schlecht, sprechen sie das auch an.
Braucht es für solche Gespräche nicht sehr viel Zeit?
Es geht dabei nicht um stundenlanges Zuhören, sondern um den Mut, das Thema auf den Tisch zu bringen und anzuregen, dass sich der oder die Betroffene Hilfe sucht. Generell wichtig ist, dass man über das Thema spricht und es nicht wie ein Tabu behandelt. Interview: Cornelia von Däniken
«Man muss sich nicht schämen
Es ist der 5. Juli 2024. Daniel Zürcher aus Kleinlützel SO ist mit dem Pressen von Rundballen beschäftigt. Um 9 Uhr erhält er ein Telefon von der psychiatrischen Klinik in Liestal. «Ihre Frau wird vermisst», sagt eine Stimme am anderen Ende der Leitung. «Mich überkam sofort ein mulmiges Gefühl, ich wusste, es könnte ein schlimmer Tag werden», so der Meisterlandwirt.
Ein Polizeiauto in der Ferne
Hilfe finden
Bäuerliches Sorgentelefon, Tel. 041 820 02 15, jeweils Montagvormittag (8.15–12 Uhr), Dienstagnachmittag (13–17 Uhr) und Donnerstagabend (18–22 Uhr).
www.baeuerliches-sorgentelefon.ch
Die Dargebotene Hand, Telefon-Notruf für alle Menschen in schwierigen Lebenssituationen, Tel. 143
www.reden-kann-retten.ch
Hausärztliche Praxis oder psychiatrischer Notdienst
Etwas hinderte den Landwirt daran, selbst nach seiner Frau, nach seiner Claudia zu suchen: «Ich wollte die Arbeit der Polizei nicht behindern. Vielleicht wollte ich auch nicht, dass ich sie in einem Zustand antreffe, dem ich nicht gewachsen bin», so der 52-Jährige. Doch er hatte Hoffnung, so wie durch die ganze schwierige Zeit, in der seine Frau krank war, dass doch noch alles gut kommen werde. Während Daniel Zürcher am Nachmittag weiter mit den Rundballen beschäftigt war, ging ihm vieles durch den Kopf. Er erinnerte sich an die letzten Gespräche mit seiner Frau, wusste, dass sie schon über ein Jahr lang mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte. Auf dem Traktor sitzend überlegte er sich, wo Claudia denn stecken könnte, er hoffte, dass sie nach Hause käme.
«Um 14.30 Uhr sah ich aus der Ferne ein Polizeiauto zu meinem Feld fahren. In diesem Moment wusste ich, dass mir die Polizisten eine schlimme Nachricht überbringen würden.» Bevor diese etwas sagen konnten, entgegnete Zürcher: «Ihr kommt sicher, um mir zu sagen, dass meine Frau verstorben ist.» Um 7.35 Uhr hatte Claudia Zürcher Suizid begangen. Sie hatte an schweren vererbten Depressionen gelitten. Daniel Zürcher hatte bis zuletzt auf Besserung und ein gutes Weiterleben gehofft.
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Keine Schuld an der Krankheit
Wir sitzen in der Küche. Alles ist aufgeräumt, ein Korb Wäsche ist bereit zum Aufhängen. Daniel Zürcher zeigt Bilder von seiner Claudia auf dem Handy. Wunderschön sei sie gewesen. «Sie war meine erste und einzige Frau – auch sexuell», sagt der Landwirt. 32 Jahre lang seien sie ein Paar gewesen. «Für all diese Jahre bin ich ihr sehr dankbar. Ich war ihr treu bis zum letzten Tag, auch als ihre Krankheit immer schlimmer wurde», hält er fest und ergänzt: «Ich bin ihr nicht böse. Ich weiss, dass sie krank war.» Die letzten zwei Jahre seien hart gewesen. Nicht nur für Claudia, sondern auch für ihn: Sie hätten viel über ihre Krankheit gesprochen, nach Lösungen gesucht, bis am Schluss nur noch die psychiatrische Klinik infrage kam.
Eine liebevolle Ehefrau
Die Krankheit von Claudia kam nicht schleichend, sondern fast über Nacht: «Es war im Mai 2023, wir waren an einem Nachtessen. Plötzlich hatte Claudia aus dem Nichts einen Sprechanfall», erinnert sich Daniel Zürcher an diesen Abend zurück. Eine Psychose nenne man das Krankheitsbild. «Die Psychose war der Punkt, die das Fass zum Überlaufen brachte. Claudia machte sich selber viel Druck. Sei es bei der Arbeit oder in der Familie. Sie wollte es immer allen recht machen und hat sich dabei vergessen», sagt der Landwirt.
Gelegentlich ging es ihr etwas besser, aber richtig erholt habe sie sich nie wieder. Seine Frau veränderte sich mehr und mehr, hatte keine wirkliche Lebenslust mehr. Trotzdem war sie für ihren Mann bis zuletzt eine fürsorgliche, liebevolle Ehefrau. Doch wie bei einer Negativspirale wurde ihre Gesundheit von Tag zu Tag schlechter. An schlechten Tagen blieb sie ganz im Bett. «Wir führten viele Gespräche. Ich versuchte, ihr all den Druck wegzunehmen.»
Es sei ein regelrechter Kampf gewesen. «Am Abend vor ihrem Tod war ich noch bei ihr in der Klinik», so der Landwirt. «Wir haben uns zuerst gestritten, danach legten wir uns ins Bett und Claudia legte ihren Kopf auf meine Brust.» Als Zürcher nach Hause ging, meinte seine Frau noch, dass er doch bleiben solle.
Leise von der Welt gegangen
Er habe diese Stunden in guter Erinnerung, erinnert sich der Landwirt. «Doch auf dem Heimweg konnte ich nicht akzeptieren, dass sie nicht mehr weiterkämpfen will.» Nach dem Suizid erhielt er von der Polizei drei Sachen von Claudia: ihre Uhr, ihr Portemonnaie und ihre Handytasche. Seine Frau habe keinen Abschiedsbrief, keine Entschuldigung und auch keine Erklärung hinterlassen.
Trauern auf Kommando, das konnte Daniel Zürcher nicht. Doch die geringe Anteilnahme der Menschen beschäftigt ihn bis heute. «Dabei braucht es keine grossen Worte», sagt er. Claudia sei ein so wunderbarer Mensch gewesen. «Nach ihrem Tod hat mich der Nachbarsbauer Daniel in den Arm genommen.» Diese Umarmung habe ihm gutgetan, sei für ihn sehr herzlich gewesen. «Viele wissen nicht, wie man mit dem Thema Suizid umgehen soll.»
Suizid ist ein Tabuthema, besonders in der Landwirtschaft, davon ist Daniel Zürcher überzeugt. Finanzielle Sorgen, Arbeitsüberlastung, Probleme in der Beziehung oder die Bürokratie – dies alles führe oft zu einem Burn-out oder, im schlimmsten Fall, zu einem Suizid. «Jemand, der psychische Probleme hat, ist für die Aussenwelt sehr schwierig wahrzunehmen», sagt er. Bei einem Beinbruch sei es auf den ersten Blick ersichtlich, warum man krank sei, bei physischen Problemen hingegen nicht. Dabei sei es ganz ähnlich.
Sieben Monate nach dem Tod von Claudia fiel Daniel Zürcher in ein tiefes Loch. «Ich sah nur noch schwarz, hatte selber Depressionen, war überfordert», erzählt er von seiner schwierigen Zeit. Zürcher suchte Rat in einer Selbsthilfegruppe und bei einem Psychiater. «Man muss sich in dieser Situation nicht schämen, sondern man muss sich Hilfe holen», ist er überzeugt.
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Jeden Abend eine Kerze
In dieser Zeit sei er viel im Bett gelegen, gefangen wie in einem Schraubstock. «Man muss es erlebt haben, sonst kann man schwer urteilen», sagt der Landwirt deutlich. Eine Checkliste gebe es auch nicht, doch geholfen hätten ihm die Eltern, Freunde und Gespräche. «Auch der Bruder von Claudia war in dieser Zeit eine wichtige Stütze für mich», sagt Daniel Zürcher anerkennend.
Claudia Zürchers Asche ist unter einem Kornelkirschbaum im Garten beigesetzt. Seit ihrem Tod brennt bei Daniel Zürcher jeden Abend eine Kerze, auf ihrem Grab und auf einem Nachttisch. «Dieses Ritual hilft mir», so der Landwirt. Ihm gehe es mittlerweile wieder gut. «Natürlich wünsche ich mir wieder eine neue Partnerin», sagt er hoffnungsvoll, doch der Ehering bleibt an seinem Finger. «Ich möchte den Ring behalten», sagt er. Denn der Ring sei nicht nur ein Andenken an Claudia, sondern auch ein Andenken an 32 glückliche Jahre mit ihr. «Doch das Leben muss weitergehen, auch für mich.» Peter Fankhauser
Lernen, darüber zu reden
Wie kann man mit Menschen sprechen, die in einer psychischen Krise stecken und/oder bei denen man Suizidgedanken vermutet? Denn die meisten fühlen sich hilflos und überfordert und haben Angst, etwas falsch zu machen. Ein Kurs der Schweizerischen Stiftung Pro Mente vermittelt Laien Basiswissen in Theorie und Praxis. «Wir bilden in den Ensa-Kursen Laien zu Ersthelfenden aus», erklärte Chantal Hofstetter von Pro Mente Sana diesen Frühling in einem Gespräch mit der BauernZeitung. Diese Ersthelferinnen und -helfer sprechen das Thema an und unterstützen, bis professionelle Hilfe übernimmt.
In den Kursen lernen die Teilnehmenden unter anderem, wie man sich in Krisensituationen verhalten kann, zum Beispiel bei Suizidalität oder Panikattacken. «Als Ersthelfende haben wir nicht die Verantwortung für den anderen, wir stellen auch keine Diagnosen und spielen nicht Laientherapeuten», so Chantal Hofstetter. «Aber wir können eine Brücke sein.»
Weitere Informationen: www.ensa.swiss