Am 12. Oktober 2010 starb Flavia Walther. Das damals neunjährige Kind einer Bauernfamilie aus Lützelflüh BE wurde Opfer einer heimtückischen Krankheit, die mit einer langen Leidensgeschichte verbunden war. Lange tappten auch die Mediziner im Dunkeln. Die Familie konnte nur hilflos zusehen, wie das Leben für Flavia immer schwerer wurde. Im ersten Lebensjahr erblindete das kleine Mädchen, es folgten immer wieder längere Aufenthalte im Krankenhaus. Ein Rollstuhl, schwere epileptische Anfälle und unzählige Tests und Therapien gehörten zum Alltag des behinderten Kindes, bis zu dessen Tod.

Hoffnung bis zum Schluss

«Wir haben gewusst, dass sie nicht ein so langes Leben haben wird», erzählt Melina Walther. Die heute 22-Jährige ist die Schwester der verstorbenen Flavia. «Man hat immer Hoffnung, auch wenn jemand wirklich schwer krank ist, dass es besser kommt. Wir glaubten immer an ein Wunder, das passieren wird und ihr irgendwann mehr Lebensqualität schenken könnte. Umso mehr waren wir schockiert, als der Tag kam, wo es hiess: ‹Flavia liegt im Sterben, wir können nichts mehr für sie tun›.» Bis zum Schluss hatte Familie Walther die Hoffnung, dass dem Mädchen etwas helfen würde, dass es irgendetwas gibt, das ihr ein schönes Leben ermöglichen könnte. Doch die Realität war anders. Melina Walther hat die Erinnerungen an den Tod ihrer jüngeren Schwester bis heute klar vor Augen. «Noch am Tag zuvor hatten wir nicht damit gerechnet. Kurz vor ihrem Tod standen alle im Inselspital Bern um ihr Bett und weinten», erinnert sich sie sich. Sie nahm ihre kleine Schwester am 12. Oktober 2010 noch einmal fest in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr: «Tschüss, machs gut.» Nur einen Moment später nahm Flavia ihren allerletzten Atemzug und starb. Sie ging und hinterliess eine grosse Lücke, wie Melina Walther erzählt. Die junge Frau sitzt am Tisch in ihrer Wohnung in Noflen BE. Sie wirkt gefasst, wenn sie über ihre Vergangenheit spricht.

Pflege der Schwester war ihr wichtig

Melina Walther arbeitet heute als Pflegefachfrau. Jüngst hat sie die Höhere Fachschule abgeschlossen. Ihre Berufswahl setzt sie in Zusammenhang mit ihrer Schwester. «Es gab mir sehr viel, dass ich Flavia betreuen, pflegen und unterstützen konnte», sagt die junge Frau. So habe Flavia auch viele medizinaltechnische Verrichtungen gebraucht, wie das Magensondenhandling, das Verabreichen von Medikamenten oder das Versorgen mit Sauerstoff. Sie ist sicher, diese Möglichkeit, aktiv zu helfen, etwas zu tun, um das Leiden der kleinen Schwester zu minimieren, habe den Grundstein für ihre heutige Berufswahl gelegt. «Ich habe ein Helfersyndrom», sagt Melina Walther und lächelt versöhnt.

Trauer zur Seite gelegt

Die Trauer um die Schwester hat Melina Walther erst spät zugelassen. Die Eltern hätten viel früher damit begonnen, ist sie sicher. «Ich habe erst sechs Jahre nach ihrem Tod damit begonnen, zu trauern. Vorher konnte ich das gar nicht zulassen», erinnert sie sich. «Mein Problem war, dass ich glaubte, ich müsse stark sein», erklärt Melina auf die Frage, wie sie sich heute den fehlenden Zugang zu dieser Trauer erklärt. «Ich wollte helfen und hatte dadurch eine Aufgabe. Ich musste stark sein und glaubte, wenn es allen anderen so schlecht geht, darf ich nicht traurig sein, schliesslich werde ich gebraucht», erzählt sie. Erst später, als es den anderen besser ging, merkte sie, dass sie die Aufgabe des Tröstens und Helfens verloren hatte. «Dann fiel ich in ein Loch», erinnert sie sich. Alles um sie sei dunkel und gleichgültig geworden. «Dann spürte ich, wie weh es tut, dass sie nicht mehr da ist.» Melina Walther lebte mit Albträumen, die sie während Jahren begleiteten und ihr teilweise komplett den Schlaf raubten. Ihre Eltern merkten, wie schlecht es um ihre Tochter stand. Aber helfen liess sie sich nicht. Melina wollte es alleine durchstehen, wollte lange keine Hilfe annehmen. «Es war höchste Eisenbahn, auch wenn ich mich lange dagegen gewehrt hatte, eine Psychotherapie zu beginnen. Heute ist mir klar, ich hätte es ohne diese und auch ohne medikamentöse Behandlung nicht geschafft, mich selbstständig aus diesem Zustand zu befreien», ist sie sicher.

Burglind bringt weiteres Leid

Das Schicksal schlug bei Familie Walther noch ein weiteres Mal zu. Als der Sturm Burglind im Januar vor drei Jahren über die Schweiz fegte, geriet Melinas Vater einige Tage später bei Holzerarbeiten unter einen Baum. Er erlitt massivste Verletzungen und wurde sofort ins Inselspital in Bern geflogen, wo er 17 Stunden operiert wurde. Er lag während fünf Wochen im Koma. Während der ersten beiden Wochen war nicht klar, ob er den Unfall überleben wird. «Sein Gesundheitszustand war sehr schlecht. Aber ich bin mir sicher, seine Kämpfernatur hat in zurück ins Leben gebracht», sagt seine Tochter. Melinas Vater verlor durch den Unfall seinen rechten Unterarm. Heute brauche er – obwohl er durch den Unfall lange nicht laufen konnte–, mit Ausnahme der Prothese keine weiteren Hilfsmittel mehr. Melina erinnert sich, dass sie, wie auch ihre Mutter, durch den Unfall wieder in den Funktionsmodus fielen, wie damals, als ihre kleine Schwester starb. «Man funktioniert einfach, man macht und macht und macht, steht auf, geht in den Stall, lenkt sich ab. Der Alltag muss einfach weitergehen, man versinkt ein wenig darin», sagt die Bauerntochter. Die beiden Frauen kamen körperlich an ihre Grenzen, und hatten in der Bewältigung der Arbeit Hilfe nötig, die sie auch in Anspruch nahmen.

Nach der Rückkehr des Vaters nach Hause erleidet Melina Walther einen weiteren psychischen Zusammenbruch. Wieder hatte die Realität den jungen Menschen eingeholt. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie Hilfe braucht.

Es braucht einen klaren Weg

«Der Schmerz ist in einem drin. Teilweise ist dieser sehr stark und kaum auszuhalten.» Um diesen Schmerz zu verarbeiten, brauche es einen Weg. Und dieser sei wohl für jeden anders. Melina Walther hat bereits kurz nach dem Tod ihrer Schwester den Wunsch verspürt, ein Buch zu schreiben. In der neunten Klasse hat sie als Abschlussprojekt ein erstes Mal gewagt, ihre Eindrücke vom Leben und Sterben ihrer kleinen Schwester aufzuschreiben. Nun hat sie dieCorona-Zeit genutzt, um Arztberichte und Medikamentenkarten ihrer Schwester aufzuarbeiten. Noch einmal nahm sie die Tagebücher und Fotos aus vergangener Zeit hervor, als Flavia noch lebte. Die Eindrücke und die Erinnerungen an jene Zeit hat Melina Walther nun in einem Buch niedergeschrieben. Vieles, was sie damals als Kind nicht verstand, nicht wusste, konnte sie jetzt mit ihrem erarbeiteten Wissen und mit der nötigen Distanz verstehen.

Das Schöne sehen

Und wie es zu ihr als Mensch auch passt, soll das Buch und die Bereitschaft, ihre Geschichte zu der ganz entscheidend ihre verstorbene Schwester Flavia gehört, zu erzählen, den anderen Menschen helfen. «Mir ist wichtig, dass man nicht nur das Negative mitnimmt, sondern bewusst auch das Positive zulässt. Es gab Momente in ihrem kurzen und leidvollen Leben, die durchaus schön waren», erinnert sich Melina Walther. Viel Zeit für Schönes habe es nicht gegeben. Aber es hat sie gegeben.

 

Hier kann das Buch bestellt werden:

Das Buch von Melina Walther mit dem Titel «Ein kurzes Leben mit zu vielen Hindernissen» ist für 30 Franken bei der Autorin unter der E-Mail-Adresse melina.walther(at)gmx.ch zu beziehen.

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