Gemeinsam mit 335 Ziegen, 28 Molkeschweinen, 2 Hirtinnen, 1 Hirten und 2 Hütehunden tauche ich auf der Alp Malschüel oberhalb von Buchs als Käserin gerade durch meinen vierten Alpsommer hindurch. Wir schreiben den 50. Tag, es liegen also in etwa nochmals 50 Tauchgänge vor mir. Mit der Hand durch den Käsebruch, mit den Beinen durchs Gras, mit den Augen durchs Nebelmeer, mit dem Kopf durch die Alpsommerblase.

Pausenlose Kür

Dossier Dossier Alpgeschichten Friday, 23. September 2022 Auf all diese wässrigen Metaphern (ja, es folgen noch mehr!) komme ich übrigens nur, weil mir hier, zwischen den gefalteten Gesteinsschichten, die unvorstellbare Tatsache immer wieder so bewusst wird, dass das hier vor Millionen von Jahren mal Meeresgrund war. Jedenfalls kann sich so ein Alpsommer auch mal ein bisschen wie eine Blase anfühlen. Man lebt und arbeitet hier oben nicht nur losgelöst vom üblichen Betrieb im Tal, sondern auch herausgelöst aus dem übrigen, eigenen Leben und dem Selbst, das man über den restlichen Teil des Jahres ist.

Und während man von aussen betrachtet (zu Recht) meinen mag, dass so ein Sommer als Älpler(in) primär eine körperliche Anstrengung sei, übersieht man schnell die mentale Herausforderung, die dieses Jahreszeitenprojekt auch so mit sich bringt. Es ist eine pausenlose Kür innerhalb eines kleinen, intensiven Kosmos, der sich aus den immer gleichen Tagesabläufen strukturiert. Mögliche Varianten sind überschaubar und lassen sich an einer Hand abzählen: Wetter, Zufälle, Notfälle, Besucherinnen. So versunken in den alpinen Alltag und so abgeschieden vom Rest der Welt kann es schon mal vorkommen, dass man sich fallweise in einem Zustand wiederfindet, der sich ein bisschen so anfühlt, als befände man sich unter einer Käseglocke. Oder, zurück zu meinen Metaphern, vielleicht ist Taucherglocke dann der passendere Vergleich – schliesslich kann man sich unter einer solchen für längere Zeit unter Wasser aufhalten, um Arbeiten zu erledigen.

Ausgelassen wie Heidi

[IMG 2]Damit man den Tauchgang durch den Alpsommer auch geniessen kann und es dem inneren Triumvirat (Bündnis) an Geist, Seele und Herzen gut geht, hilft es, wenn einige Parameter passen. Gutes Wetter bietet schon mal eine stabile Grundlage. Weiter schaden nicht: Wandersleute, die nicht nur zu den Tieren respektvollen Abstand halten, und Bauersleute, die einem als Fachpersonal auf Augenhöhe begegnen. Die Möglichkeit, selbstbestimmt zu arbeiten, und diese eigenverantwortlichen Anstrengungen in erfolgreichen Ergebnissen bestätigt zu finden: sei es in Form gesunder Tiere oder köstlichem Alpkäse. Teamkolleg(innen), mit denen man nicht nur halbwegs auskommt, sondern die man vielleicht sogar lieb gewinnen kann, sind ausserdem Gold wert.

Wenn von alledem ausreichend vorhanden ist, dann ist dieses Alpleben einfach «guat». Dann springt man nach dem abendlichen Melken schon mal fast so ausgelassen wie Heidi über die beblümten Bergwiesen zum wohlverdienten Znacht zur Alphütte hinab, um danach zufrieden ins Bett zu fallen. Dann herrscht äusserer und innerer Alpfrieden. Und daran muss man dann zurückdenken, wenn mal alles nicht so im Fluss ist.

Zur Person
Marlene Kelnreiter geht seit 2020 jeden Sommer z Alp. Im September erscheint ihr Buch «Käseglück» im Löwenzahn Verlag.