Früher griffen Eltern gern auf Bienchen und Blümchen zurück oder überliessen das Thema gleich dem legendären Jugendmagazin «Bravo». Aber wann ist eigentlich der richtige Zeitpunkt, die eigenen Kinder aufzuklären – und wie geht man dies am besten an? Vera Studach, Leiterin der Fachstelle «Liebesexundsoweiter» in Winterthur ZH, weiss Rat.
Ab welchem Alter sollte man mit der Sexualaufklärung bei Kindern beginnen?
Vera Studach: Themen wie Körper, Liebe, Beziehung, Sexualität und Identität sollten frühzeitig und als normale Alltagsthemen angesprochen werden. Das Alter ist dabei nicht entscheidend, sondern der Entwicklungsstand des Kindes. Wichtig ist ein offenes Klima zu Hause, damit Kinder wissen, dass man über diese Themen sprechen darf. Fragen können sich zum Beispiel bei einer Schwangerschaft im Umfeld ergeben und sollten kindgerecht beantwortet werden. Es gibt viele geeignete Bilderbücher, auch schon für Zweijährige (siehe Kasten).
«Es ist nicht notwendig, sofort eine perfekte Antwort zu haben.»
Man darf sich für die Beantwortung von Kinderfragen Zeit nehmen.
Wie sieht altersgerechte Aufklärung in den verschiedenen Entwicklungsstufen (Kleinkind, Grundschule, Pubertät) aus?
Kinder sollten von klein auf die Begriffe für ihre Körperteile kennen, insbesondere für Geschlechtsorgane. Dies fördert das Körperbewusstsein und schützt vor Übergriffen, da sie klar benennen können, was ihnen unangenehm war. Der Zugang zu Worten und Informationen hilft, sexualisierte Wörter zu verstehen. Kindliche Sexualität ist geprägt von Neugier und Spiel und darf nicht mit der Erwachsenensexualität verglichen werden. Sensible und altersgerechte Antworten sind wichtig. Aufklärungsbücher, Filme oder Websites sollten vorher geprüft werden. Kinder sollen Gefühle äussern können und Wissen über Schwangerschaft, Geburt, Menstruation und Diversität erhalten. Rollenbilder und verschiedene Lebensformen sollten ebenfalls frühzeitig thematisiert werden.[IMG 2]
Wie sollte man auf direkte Kinderfragen reagieren?
Viele Kinder stellen direkte Fragen. Es ist nicht notwendig, sofort eine perfekte Antwort zu haben. Es ist akzeptabel zu sagen: «Das ist eine gute Frage, ich werde darüber nachdenken und dir später antworten.» Bei Unsicherheit kann man ebenfalls zuerst eine Fachperson kontaktieren und danach auf die Frage des Kindes eingehen. Wichtig ist, ehrlich und offen zu reagieren, authentisch zu sein und im Gespräch mit dem Kind zu bleiben.
Was können Eltern tun, wenn ihnen Aufklärungsgespräche unangenehm sind?
Es ist hilfreich zu erkennen, dass dieses unangenehme Gefühl normal ist. Ebenso kann es entlastend sein, wenn man mit dem Partner oder der Partnerin darüber spricht, wer welchen Teil der Aufklärung übernimmt.
Welche Rolle sollten Eltern und Schule in der Sexualaufklärung übernehmen?
Eltern und Erziehungsberechtigte sind die wichtigsten Ansprechpartner. Nicht alle können natürlich über Körper, Liebe, Sexualität und Identität sprechen. Elternratgeber und Fachstellen wie «Liebesexundsoweiter» unterstützen sie dabei. In der Schule hilft der sexualkundliche Unterricht nach Lehrplan 21 den Schülerinnen und Schülern, verantwortungsvoll mit ihrer Gesundheit und Sexualität umzugehen.
Welche Fehler machen Eltern häufig – und wie lassen sie sich vermeiden?
Vermeiden Sie Kommentare über Aussehen und Körper wie «Die Bluse ist zu eng» oder «Du solltest weniger essen». Überbehütung und Gleichgültigkeit sind problematisch. Kinder brauchen Vertrauen, um eigenständig zu lernen.
Wie kann man altersgerecht über «Nein sagen», eigene Grenzen und Konsens sprechen?
Es ist wichtig, früh anzufangen. Kinder sollten wissen, dass sie das Recht haben, Nein zu sagen. Niemand darf sie gegen ihren Willen berühren – auch nicht im Spiel. Ebenso müssen sie die Grenzen anderer respektieren. Dies ist ein wichtiger Schutzmechanismus. Eltern sollten akzeptieren, wenn Kinder keine Umarmungen möchten. Gleichzeitig sollten Eltern ihre eigenen Grenzen wahren und Privatsphäre haben, um Beziehungen zu pflegen. Andernfalls könnten Kinder Schwierigkeiten haben, eigene und fremde Grenzen zu respektieren. Beratungsstellen können bei solchen Anliegen unterstützen. Private Umstände spielen ebenfalls eine Rolle: Wächst ein Kind in einer Familie mit häuslicher Gewalt auf, kann es später schwieriger sein, gesunde Beziehungen zu führen, da häufig Grenzen überschritten wurden.
Wie kann man Kinder vor Übergriffen schützen, ohne ihnen Angst zu machen?
Unterstützen Sie Kinder, Wissen zu erwerben, Selbstbewusstsein zu entwickeln und klar zu kommunizieren. Sexualisierte Gewalt tritt oft im nahen Umfeld oder an Orten mit engen Kontakten zu Vorbildern auf. Kinder sollten ihren Körper kennen, die Körperteile benennen können, wissen, wo sie Hilfe bekommen und sicher sein, dass ihnen geglaubt wird.
Wie können Eltern reagieren, wenn Kinder in den sozialen Medien auf unangemessenes Material stossen?
Kinder werden früher oder später mit Pornografie konfrontiert. Offene Aufklärung zu Hause macht Pornos weniger spannend. Tabus wecken Neugier. Eine offene Gesprächskultur erleichtert Kindern, sich Unterstützung zu holen. Deshalb: Reden Sie offen. Erklären Sie, dass Pornografie nicht für Kinder ist, nicht die natürliche Sexualität repräsentiert und Fragen jederzeit willkommen sind.
Welche Rolle spielen Geschlechterrollen und Diversität in der Aufklärung?
Es ist wichtig, von Anfang an zu vermitteln, dass Mädchen und Jungen gleich behandelt werden sollen und dass es viele Wege gibt, das eigene Leben zu gestalten. Bei der Farbwahl oder Kleidung sollten Kinder ermutigt werden, frei zu sein. Wenn ein Junge ein pinkes Kleidungsstück tragen möchte, sollte dies akzeptiert werden und sagt nichts über das zukünftige Leben aus. Wichtig ist, dass sie sich angenommen fühlen. Kinder spüren gut, wenn sie anders wahrgenommen werden und brauchen dann besonders viel Unterstützung. Eltern sollten klar signalisieren: «Du bist gut, so wie du bist. Wir lieben dich und begleiten dich auf deinem Weg.» Zu welchen Persönlichkeiten Kinder heranreifen und wie sie ihre Sexualität leben, können Eltern nicht beeinflussen, jedoch können sie durch ihre Offenheit und Präsenz wichtige Unterstützung bieten.
Büchertipps für jedes Alter
Diese Bücher empfiehlt Fachfrau Vera Studach:
Kindergarten/Unterstufe: Heute bin ich, Mies von Hout, Aracari Verlag. Lina, die Entdeckerin (aufklärerisches Kinderbuch zur Normalisierung und Enttabuisierung von Vulva und Sexualität, ab 3 Jahren), Flo Staffelmayr, Katharina Hotter und Lisa Charlotte Sonnberger, Achse Verlag. Das Liebesleben der Tiere, Katharina von der Gathen, Klett Kinderbuch. Mein Körper gehört mir!, Dagmar Geisler, Loewe. Vom Liebhaben und Kinderkriegen, Sanderijn van der Doef, Annette Betz.
Mittelstufe (ab ca. 9 Jahren): Ganz schön aufgeklärt, Jörg Müller, Dagmar Geisler, Loewe. Klär mich auf & Klär mich weiter auf, Katharina von der Gathen und Anke Kuhl, Klett Kinderbuch. Anybody, Katharina von der Gathen, Klett Kinderbuch.
Oberstufe: Unverblümt! Klare Fakten zu Sex und Aufklärung, Myriam Daguzan Bernier, Sauerländer. FAQ You – ein Aufklärungsbuch, Jugend gegen Aids, Inhouse GmbH.
Menstruation: Ebbe und Blut, Luisa Stömer, Eva Wünsch, Gräfe und Unzer. Super Power Periode – Wie Sie Ihren Zyklus richtig verstehen und seinen Rhythmus für sich nutzen, Maisie Hill, VAK Verlag.
Elternratgeber: Kleine Menschen – grosse Gefühle – die sexuelle Entwicklung von Kindern 0–12 Jahre, Sanderijn van der Doef, Julius Beltz GmbH.