Die amerikanischen Wurzeln von Amy Baumann sind unüberhörbar. Im Gespräch mit ihren drei Kindern und Mann René switcht sie scheinbar mühelos zwischen Englisch und Schweizerdeutsch mit amerikanischem Akzent.
Aus reisefreudiger amerikanischen Familie
Seit 2016 lebt sie auf dem Hof Holderen in Meien an der Sustenpassstrasse. Aufgewachsen ist die 45-Jährige in einer ländlichen Kleinstadt mit 25 000 Einwohnern im Bundesstaat Massachusetts im Nordosten der USA. Ihre Familie hatte fünf Hektaren eigenes Land, wo ihre Pferde weideten, ein Schwein und Kleintiere. Sowohl ihr Vater wie auch sie arbeiteten in der Informatik-Branche. Ihre Familie war sehr reisefreudig, die Eltern lebten zeitweise in China und Taiwan und in Europa verbrachte sie mehrmals die Ferien.
Die Urner Bergkulisse prägte
Amy Baumann kam im Winter 2002 erstmals in die Schweiz, wo sie in Andermatt einen Bekannten der Familie besuchte. Die begeisterte Skifahrerin genoss die Zeit in den Bergen und erlebte gleich noch die intensive Fasnachtszeit. Sie lernte viele Leute kennen, die Gastfreundschaft der Urner machte der jungen Amerikanerin Eindruck. Aber auch die imposante Bergkulisse prägte sie nachhaltig. «Obwohl ich damals mitten in Boston lebte, wusste ich schon immer, dass ich einmal aufs Land ziehen möchte.» Weitere Besuche in der Schweiz folgten. 2005 kündigte sie ihren Informatik-Job und die Wohnung in der Grossstadt Boston, reiste erst nach Madagaskar und dann ins beschauliche Göschenen.
55-Seelen Dorf im Urnerland
Dort lernte sie ihren ersten Mann kennen, mit welchem sie ihre beiden Kinder Ladina (13) und Cornel (11) bekam. Von Göschenen zog das junge Paar nach Abfrutt, einen kleinen Weiler im Göschenental, und 2007 weiter in den Weiler Husen im sonnigeren Meiental. Die Ehe ging 2016 allerdings in Brüche und Amy Baumann zog in ein kleines Haus im Dorf Meien. Die Amerikanerin integrierte sich im 55-Seelen-Dorf bestens, engagierte sich in mehreren Vereinsvorständen wie der Wassergenossenschaft oder im Skiklub. Und im Skiklub lernte sie auch ihren heutigen Mann René Baumann kennen.
Noch sechs Höfe in Meien
Bald zügelte sie auf dessen Hof Holderen, einen von nur noch sechs Bauernhöfen in Meien. Neben einigen Kühen und Jungtieren ist die Schafhaltung mit 200 Tieren der Hauptbetriebszweig. Den Sommer verbringen die Schafe auf der weitläufige n Kooperationsalp Kartigel. Dort werden die Tiere auf einem Koppelweidesystem gehalten und von der Familie Baumann selber betreut. «Sind die Tiere im obersten Weidebereich, macht mein Mann für einen Kontrollgang bis 30 Laufkilometer», so Amy Baumann. Über die Sommermonate ist auf dem Hof Holderen an fast jedem sonnigen Tag Heuen angesagt. Die Flächen ziehen sich von 1300 bis auf 1800 m ü. M. In den steinigen und steilen Hängen muss viel von Hand gemäht werden. Grosse Unterstützung erhalten sie von Renés Geschwistern. Entsprechend gut besetzt ist dann der Essenstisch. «Von Renés Mutter lernte ich, wie man alte lokale Gerichte kocht, und auch Rezepte aus der amerikanischen Küche koche ich unserer teils grossen Besucherschar», erklärt die 45-jährige Bäuerin.
Grosse Wertschätzung von Familie
Aber nicht nur beim Heuen, sondern auch an den meisten Festtagen oder zur Fasnachtszeit ist der Hof Holderen der Treffpunkt für Renés Geschwister und deren Kindern. Amy Baumann geniesst ihre Grossfamilie. «Ich wurde von Renés Familie mit offenen Armen aufgenommen.» Auch von ihrer Schwiegermutter spürt sie eine grosse Wertschätzung. Bis vor vier Jahren arbeitete Amy Baumann zu 80 Prozent bei der Firma Roche im Kanton Zug. Die Arbeit im Team gefiel ihr zwar sehr, war aber immer schwieriger mit Hof und Familie zu vereinbaren. Über ihre Freizeitplanung muss sich die Familienfrau aktuell dennoch nicht viele Gedanken machen. Ihre junge Familie, die vielen Besucher und die grosse Arbeit auf dem Hof füllen ihren Tag genügend aus. Die Abgelegenheit des Betriebes führt dazu, dass jeder Einkauf und jedes auswärtige Hobby der Kinder mit einer langen und im Winter teils auch nicht ungefährlichen Autofahrt verbunden sind.
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Kurze Auszeiten bei der geliebten Gartenarbeit
Kurze Auszeiten für sich selber geniesst sie dadurch doppelt. «Beim Sammeln von Kräutern und bei der Gartenarbeit erfreue ich mich an der Ruhe und unserer schönen Bergwelt.» Die gesammelten Kräuter und viele Hofprodukte verarbeitet Amy Baumann zu Tee, Sirup und verschiedenen Milch- und Fleischprodukten. Diese dienen einerseits der Selbstversorgung, anderseits verkauft sie sie auch auf kleineren Märkten.
Vor bald vier Jahren komplettierte Julian die nun fünfköpfige Familie. «Ich habe mit René nicht nur den besten Bauer im Meiental bekommen, sondern auch einen fürsorglichen Vater», so das Kompliment von Amy Baumann an ihren Mann. Und Heimweh? In den ersten Jahren in der Schweiz habe es sicher schwierige Momente gegeben. «Ich musste mich damals entscheiden, entweder definitiv in der Schweiz zu bleiben oder zurück in meine Heimat zu gehen.» Zudem hätte sich ihre eigene Familie natürlich gewünscht, dass sie wieder in die USA kommen würde.
Meien ist das Zuhause
Die Distanz sei schon enorm und erschwere Besuche bei Krankheits- oder Todesfällen. «Ich kann nicht einfach schnell für einen Besuch ins Auto steigen.» Während ihr Vater schon vor längerer Zeit verstarb, ist ihre Mutter immer noch sehr vital und eigenständig. Rund einmal jährlich fliegt sie in die USA zu ihrer Familie. Trotz leicht wässrigen Augen betont Amy Baumann: «Heute ist Meien mein Zuhause und ich liebe es, hier zu leben.»
