«Beim Theater sind alle gleich, das fasziniert mich», sagt Olivia Wyss. «Im Laufe einer Produktion wird man zu einer Familie.» Heuer wirkt die Grindelwalderin das erste Mal beim Landschaftstheater Ballenberg mit. «Bärner Gringe» ist die zweite Theaterproduktion, in der die Bauführerin, zweifache Mutter und Hobby-Bäuerin mitspielt. Zum Schauspiel kam sie 2019, als sie beim grossen Freilichttheater «Alpenglühen» in ihrem Heimatdorf gleich vier Rollen innehatte. «Vom Schulkind bis zum Fünfsternhotelier war im Ensemble alles dabei.»
«Wir sind wie eine Familie.»
Olivia Wyss über den Zusammenhalt im Theater-Ensemble.
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Zum Casting überredet
Wegen Corona kam es erst mal zu keinen weiteren Rollen. Doch dann half der Zufall mit: «Wegen meiner Arbeit als Bauführerin bei einer Gerüstbaufirma bin ich jedes Jahr auf dem Ballenberg, wenn die Beleuchtungstürme für das Theater gestellt werden.» Dabei kam Olivia Wyss letztes Jahr mit dem damaligen Produktionschef ins Gespräch, der sie ermunterte, zum Casting zu gehen. Mit Erfolg, nun spielt sie im Freilichtmuseum vom 3. Juli bis zum 17. August die Hanni.
«Das Hanni gehört zur allgemeinen Dorfbevölkerung und ist immer überall etwas dabei. Sie amtet unter anderem als Totengräberin», verrät Olivia Wyss. «Es ist keine grosse Rolle, aber ich habe immer mal wieder etwas Text.»
Die Magd gibt niemals auf
Die Hauptrolle spielt die bekannte Schweizer Schauspielerin Fabienne Hadorn. Sie mimt die Rötele. Die Magd schlägt sich mit stiller Kraft und Ausdauer durchs Leben. Sie hat es schwer, sie ist arm. Noch schwerer machen es ihr die Leute im Dorf. Sie schneiden und verspotten sie, obwohl sie sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Das Haar der Rötele – es ist fürzüntrot – habe die Farbe des Teufels, sagen sie.
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Die Rötele heiratet früh ihren Hans. Im Nachbardorf übernehmen die beiden ein kleines, heruntergekommenes Gut. Eine Dürre löscht die kleine Wirtschaft fast aus. Hans ist keine Hilfe, im Gegenteil. Und die aus dem Dorf haben ja schon immer gewusst, dass es nicht gut kommt mit der Rötele. Doch eine wie sie, die gibt nicht auf, denn die dem Stück den Namen gebende «Bärner Gringe» sind sprichwörtlich hart, stur und beharrlich.
«An der Rötele gefällt mir ihr ganzer Charakter: Sie muss unten durch, aber sie gibt nie auf. Sie bringt ihre Kinder unter widrigen Umständen durch und macht sie stark», erzählt Olivia Wyss über die Hauptfigur. Am Stück, inspiriert von zwei Erzählungen des bekannten Emmentaler Autors Simon Gfeller (1868–1943), gefällt Wyss eins besonders: «Es ist nicht nur traurig, nicht nur melancholisch, sondern hat auch Witz und Charme.» Ein Stück wie «Ueli, der Knecht» oder «Ueli, der Pächter» hätte sie weniger angesprochen, gesteht die Berner Oberländerin. «Dieses Ewig-Traurige ist nicht so meins.»
Ohne Pause auf der Bühne
Das Spezielle an der diesjährigen Produktion ist, dass sie in die Landschaft integriert ist und nicht bei einem Gebäude stattfindet. «Das heisst, dass alle Figuren während 90 Minuten immer sichtbar sind, auch wenn wir gerade nicht spielen.» Wenn man in dieser Zeit jemand Bekannten im Publikum entdecke, werde man bestimmt nervös. «Lampenfieber ist schon ein Thema, besonders Respekt habe ich vor einem Textaussetzer.»
«Mails schreibe ich während des Workouts mit dem Hula-Hoop-Reifen.»
Olivia Wyss über ihren beachtlichen Energie-Level.
Kurze Nächte
Der zeitliche Aufwand für die dreissig Laienschauspieler(innen) ist gross. Seit März wird geprobt, jetzt in der heissen Phase dreimal pro Woche am Abend sowie am Wochenende. «Nach den Proben bin ich erst etwa um 23.30 Uhr in Grindelwald und muss am nächsten Morgen um 4 Uhr aufstehen, um rechtzeitig auf der Baustelle zu sein.» Die Nächte seien zwar kurz, aber das macht Olivia Wyss nichts aus.
Neben ihrem 100-Prozent-Job hat sie ihre Familie, bestehend aus einem Mann und zwei erwachsenen Söhnen, und ist für zwei Häuser zuständig. Dazu kommt der Hobby-Landwirtschaftsbetrieb mit zwölf Hektaren Land, dreissig Schafen und fünfzehn Lamas. «Wir sind beide mit Tieren aufgewachsen», erzählt Olivia Wyss über die gemeinsame Leidenschaft mit ihrem Mann.
Mails und Hula-Hoop
Ihre vielen Pflichten sind für die Fünfzigjährige kein Problem, denn an Energie mangelt es ihr nicht: «Ich bin immer in Bewegung. Mails schreibe ich während des Workouts mit dem Hula-Hoop-Reifen.» Daneben macht sie Aquafit, wandert und fährt leidenschaftlich gerne Ski.
Doch die nächsten paar Wochen gehören nun erst einmal der Hanni und dem Landschaftstheater Ballenberg. Bestimmt wird es nicht das letzte Stück bleiben, in dem man Olivia Wyss als Schauspielerin zu sehen bekommt.
