Das grosse Vergessen schreitet voran: So manches Kind lernt erst im frühen Schulalter, was Milch ist und woher sie kommt. Wann Beeren, Obst und Gemüse Saison haben, ist Stoff für die Oberstufe, und viele lernen es gar nie. Was für die Landwirtschaft gilt, ist auch bei der Kenntnis der eigenen Kultur der Fall: Was an Weihnachten, Ostern und Pfingsten eigentlich gefeiert wird, ist fast schon Expertenwissen geworden.

Verlust der Bezüge

Damit geht nicht nur das Verständnis für die grossen Themen der Kunst, der Musik, der Malerei verloren, die liturgische Themen der Kirche zur grossen abendländischen Erzählung verwoben, sondern auch für das Leben im Einklang mit der Natur und den Jahreszeiten, das bis vor zwei, drei Generationen für die meisten Menschen selbstverständlich war.[IMG 2]

Erst als die Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg in nie geahntem Ausmass den Städten zustürzte und der ländliche Raum aufgeteilt wurde in Produktionsfläche, Wohnraum für gute Steuerzahler und Erholungsgebiet für die Angestellten in den Büros der Städte, schwanden diese Bezüge. Nun, da die letzte Generation, die das Land noch ohne moderne Technik bearbeiten konnte, wegstirbt, drohen sie, ganz abzureissen.

Ein Blick weit zurück

Schreiben wir also für einmal nicht darüber, was Ostern «für uns heute bedeutet», sondern darüber, was es für alle früheren Generationen war – «immer und überall»: Das Fest der Auferstehung des Gottmenschen Jesus Christus, geschehen nach der Überlieferung im Monat Nisan (ca. April) des Jahres 33 in Jerusalem, einer Provinzstadt des die damalige Welt umspannenden römischen Reiches.

Die Geschichte ist so kurz wie schockierend: Ein Mann von mysteriöser Herkunft fällt in den griechisch geprägten Gebieten nördlich von Jerusalem durch Reden und Heilungen – manche sprechen von Wundern – auf. Seine in einfachen Merksprüchen und Sinnbildern gehaltenen Lehren mahnen mehr an die antiken Philosophen Heraklit und Sokrates als an die exotischen, aber ob ihres Alters und ihrer geistigen Tiefe weltweit bewunderten Traditionen der Juden. Als er den Tempel aufsucht, kommt es zum Skandal. Er zieht den Hass der Hüter der Tradition auf sich. Auf den triumphalen Einzug in die Stadt folgt die Kreuzigung, doch am dritten Tag berichten Frauen, sein Grab sei leer – und das tragische Schicksal eines verfemten Rebellen erinnert plötzlich an die in der Region wohlbekannten Mysterien des sterbenden und auferstehenden Gottes.

Menschen, wie verwandelt

Jesus, so berichteten bald Hunderte von Zeugen, sei nach seinem Tod gesehen worden, habe mit den Lebenden gesprochen – und gar gegessen. Die Leute, die von diesen Erscheinungen erzählten, wirkten wie verwandelt. Etwas war mit ihnen geschehen. Etwas, das ganz und gar nicht zu erklären war. Ihr neues Leben erschien wie aus einer anderen Welt. In einer Zeit, in der Krankheit und Schwäche als Ausdruck göttlicher Verachtung für «lebensunwertes Leben» gesehen wurden, erhöhten sie die Armen und Ausgestossenen. In einem Reich, in dem der Triumph Zeichen höchster göttlicher Gunst war, predigten sie die Erniedrigung am Kreuz. Bald mussten sie diese am eigenen Leib erfahren.[IMG 3]

Denn ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Grandiosität eines Lebens im Taumel von Macht, Sex und Gewalt erschien in dieser Welt als ein gefährlicher Nihilismus. Wer einen geschlagenen, bespuckten Gekreuzigten verehrte, verachtete offensichtlich alle Prinzipien der göttlichen und natürlichen Ordnung und der imperialen Gesellschaft, die sich als deren Abbild verstand: Lochfrass im Fundament der grossen römischen Zivilisation.

Köpfe für die Idee gewinnen

Erst am Ende eines langen Leidenswegs entwickelte die von Kaiser Konstantin dem Grossen nach einem mystischen Kriegserlebnis zum imperialen Kult erhobene Kirche eine Idee davon, was da, vor nun über 300 Jahren, in Jerusalem geschehen war.

Gastbeitrag Ostern, die Zeit des Neubeginns Sunday, 20. April 2025 Sie nahm dafür alles zu Hilfe, was die antike Philosophie seit Platon an Denkkunst liefern konnte. Immerhin galt es jetzt, die besten Köpfe der in Wissenschaft und Technik führenden Städte der Welt zu gewinnen. Und diese waren auf einem Stand, den die moderne westliche Wissenschaft erst vor ein paar Jahrhunderten erreichen konnte. Nach allen Regeln der damaligen wissenschaftlichen Methodik wurde ausformuliert, was die Christen seit Menschengedenken eher intuitiv empfunden hatten.

Eine vertraute Wahrheit

Es ist eine Geschichte, die die menschliche Wirklichkeit gegen die kalte Realität der materiellen Welt verteidigt. Letztere sei Leiden und Tod, ein unentrinnbarer Zyklus aus Werden und Vergehen, ein langer Zerfall, eine Reise ins Nichts. Die Liebe des Menschen aber, und damit seine Fähigkeit, Schönes zu erkennen und in Wahrheit zu leben, sei nicht nur «nicht von dieser Welt», sondern wirklicher als die vermeintliche Realität der materiellen Dinge.

Diese hätten ihre Macht verloren, weil Gott selbst die menschliche Natur angenommen und diese damit der Knechtschaft der niedrigen «Gewalten» entrissen habe. Die ersten Mönche begannen, am eigenen Leib zu erforschen, was das zu bedeuten hatte. Ihr Labor war die Wüste, ihr Versuchsobjekt der eigene Leib. Ihr Kampf galt der unersättlichen Gier nach Vergänglichem, die das Unvergängliche aus dem Bewusstsein schwinden lässt. Kamen sie nicht weiter, stellten sie sich die Leiden des Gekreuzigten vor, riefen ihn an, und fanden heraus, dass Liebe, Schönheit, tief empfundene Wahrheit von keinem Schmerz und keinem Leiden ganz ausgelöscht werden können. Das war die Wahrheit von Ostern, und sie war dem einfachen Menschen auf dem Land von je her vertraut.

Eine Antwort jenseits der Zeit

Kannte doch auch er die merkwürdige Gleichzeitigkeit von Freud und Leid in der Arbeit mit der Natur. Die Rücken und Gelenke aufreibende Plackerei auf den steinigen Feldern, die Schwitzerei und Schinderei für das wenige Brot, die hämische Grausamkeit des Hungers, des Marktes, der Seuchen, wenn es nicht reichte für alle.

Und doch war da auch die Fülle der Früchte im Herbst, die Kraft von Wein und Öl im Herzen, die Augenblicke tiefer, stiller Schönheit, wenn die Finger über die Ähren strichen und die Felder sonnendurchflutet in der lauen Brise wogten, das Lachen der Kinder, die fröhlichen Bocksprünge der Zicklein. Zwei Welten in einer, getrennt oft nur von Augenblicken – welche ist wirklicher, welches Leben ist das wahre? Darauf gab Ostern eine Antwort.

Versuch, zu erleben

Im Brauchtum versuchte man, sie erlebbar zu machen. Vor das Fest der Auferstehung setzte die Kirche eine lange Fastenzeit – meist 40 Tage – in der alles verboten war, was Freude machte, in manchen Kirchen am Mittelmeer sogar das Olivenöl. Der Karfreitag wurde zu einer schaurig-feierlichen Totenmesse. Nicht nur der Tod Gottes, jeder Tod, den ein Mensch in seinem Leben je hatte mit anschauen müssen, war da gegenwärtig – Musik gab der Trauer eine Stimme, die abgedunkelte Kirche einen Raum.

Es folgte am Karsamstag eine Zeit der grossen Stille, der Sprachlosigkeit, die jeden befällt im Angesicht der Schrecken des Sterbens, aus der Hoffnung keimen könnte, würde sie nicht jäh abgeschnitten durch das Gerede vom «Es muss weitergehen.» Anders Ostern: Erst nach der Trauer, nach der Stille, im Dunkel der tiefsten Nacht, flammt das zarte Lichtlein auf, das kurz darauf wie ein stürmisches Funkenstieben die Dörfer und Höfe erfasst: Er ist auferstanden! Der Tod mag eine Realität sein, in Wahrheit aber ist er nicht.

Und dann das Brot, die Butter, die Eier, die Milch, das zarte Fleisch. Der ganze Segen der Erde, die ganze Lebenskraft, die das neu ergrünende Land den Menschen gibt. Die Lieder, der Tanz, die bunten Kleider, die Anmut – das Gewahrwerden, dass diese Liebe, diese Schönheit so unendlich wirklicher sind als jede Trauer und jeder Tod, dass das blosse Vorhandensein eines einzigen Kinderlachens den Kummer der ganzen Welt aufwiegen kann. Nicht nur eine Zeit lang, nein – in Ewigkeit. Frohe Ostern!