Pia* verstand die Welt nicht mehr. Die Bäuerin aus der Ostschweiz hatte sich so auf das Baby gefreut und sich umfassend auf die Geburt ihres ersten Kindes vorbereitet. Die Realität war ganz anders als das, was sie sich vorgestellt hatte: Tagelange Wehen, dann fiel die Herzfrequenz des Babys ab und es musste schnell gehen. Die Saugglocke kam zum Einsatz. «Unsere Tochter ist gesund und ich sollte zufrieden sein», sagt die 28-jährige Mutter vier Monate später. «Aber ich träume heute noch von der Geburt und wache schweissgebadet und mit Herzrasen auf.»
Längst nicht alle Geburten bleiben in guter Erinnerung. «Doch es ist ein Tabu, darüber zu sprechen. Denn als Mutter eines gesunden Babys darf man nicht unglücklich sein, so die landläufige Meinung», weiss Prisca Walliser aus ihrer langjährigen Berufserfahrung als Hebamme und Pflegefachfrau. Heute arbeitet sie als Sexualpädagogin sowie als Lehrbeauftragte und führt in St. Gallen und Gais AR eine Praxis für Sexualberatung und Paartherapie.
[IMG 2]
Traumatisches Erlebnis
«Geburten können körperlich und/oder psychisch als traumatisch erlebt werden», erklärt Prisca Walliser weiter. «Das kann die Frau, den Mann oder das Baby betreffen.» Oft merkt man erst einige Wochen nach der Geburt, dass einen etwas belastet oder nicht mehr loslässt.
Etwa bei einem Notfall-Kaiserschnitt: Das Spital-Team ist völlig auf das schnelle Handeln fokussiert. Niemand hat in dieser akuten Situation Zeit, auf das Paar zu schauen. Viele Eltern fühlen sich in diesem Moment ängstlich, hilflos und ausgeliefert. «Gerade bei Notfalleingriffen fragen sich die Frauen nachher oft, ‹habe ich etwas falsch gemacht?› Dann wäre es wichtig und entlastend, wenn sie oder das Paar später mit den Fachpersonen darüber sprechen könnte», so Prisca Walliser.
Traumatisierend für die Frau können unter anderem folgende Situationen sein:
- Starke Blutungen
- Geburtsverletzungen
- Notfallinterventionen
- Tagelange Wehen
- Sturzgeburt
- Frühgeburt
- Eine Trennung von Mutter und Baby, wenn das Kind in die Kinderklinik muss
- Sich von den Fachleuten nicht ernst genommen fühlen.
Für den Mann kann traumatisch sein:
- Die Partnerin im Schmerz zu erleben, in einer Grenzsituation, «nichts tun zu können»
- Wenn sie starke Blutungen hat
- Wenn er Angst um Frau und Kind hat
- Wenn es eine medizinische Intervention braucht und das Fach-Team keine Zeit für ihn hat.
Traumatisierend auf das Baby können unter anderem folgende Situationen wirken:
- Sauerstoffmangel
- Reanimation, medizinische Interventionen
- Trennung von Mutter und Vater.
Das kann sich unter anderem später dadurch zeigen, dass das Baby keinen Schlaf findet, viel weint oder schreckhaft ist.
Aber auch, wenn «nichts Dramatisches» passiert: «Eine Geburt ist eine Grenzerfahrung», sagt Prisca Walliser. «Das darf man nicht vergessen.» Das Ziel sei, dass alle Beteiligten «unversehrt» daraus hervorgehen. Damit dies geschehen kann, ist eine Geburtsnachbereitung wichtig.
Lange Nachwirkung
Eine unverarbeitete traumatische Geburt kann sich hingegen stark auf das Leben einer Frau auswirken. Sie kann etwa chronisch erschöpft sein, von Selbstzweifeln geplagt, Bindungshemmungen erleben, veränderte Empfindungen oder Schmerzen im Genitalbereich, Probleme, die Sexualität genussvoll zu leben, oder Wochenbettdepression haben.
Prisca Walliser: «Die Frage ist, wie eine Frau über das Belastende reden kann.» Denn reden, fragen, das Herz ausschütten, das hilft oft. Die Einstellung «Jetzt hast du ein Kind, jetzt ist alles gut» hilft hingegen nicht. «Wenn sich eine Frau nach einer traumatischen Geburt nicht ernst genommen fühlt, kann es für sie schwierig werden.»
Zum «Darüberreden» gehört, dass solche Themen von der Hebamme schon vor der Geburt angesprochen werden und dass Fragen gestellt werden wie: «Wie geht es Ihnen im Hinblick auf die Geburt, auf die Zeit danach? Gibt es etwas Belastendes in Ihrem Leben, das einen Einfluss auf die Geburt und die Elternschaft haben könnte? Wie geht es Ihnen als Frau? Gibt es ein Anliegen in Bezug auf die Sexualität?»
Die Geburtsnachbereitung sollte, je nach Situation, gleich nach der Geburt oder mit etwas zeitlichem Abstand stattfinden. «Wenn die Frauen oder die Paare über das Erlebte und ihr Befinden sprechen können, offene Fragen geklärt werden, fühlen sie sich oft besser gesehen und verstanden», sagt Prisca Walliser. Ihrer Erfahrung nach würde in gewissen Situationen, zum Beispiel, wenn fehlerhaft gehandelt wurde, auch eine Entschuldigung Entlastung bringen.
Es braucht Zeit
Um sich als Eltern in die neue Rolle und den Alltag mit dem Baby einzufinden, rät die Fachfrau, sich Zeit zu geben, Unsicherheiten zuzulassen und Kompromisse zu finden. Es braucht auch Verständnis, dass die Partnerschaft mal «durchgeruckelt» und auf den Prüfstand gestellt werden kann. Es kann aber auch zusammenschweissen. «Die neue Lebenssituation sowie die Rolle als Eltern kann das Paar stärken und nähren.»
Manche Frauen oder Paare buchen bei einer erneuten Schwangerschaft bei Prisca Walliser einen privaten Vorbereitungskurs, wenn sie bei der ersten Geburt belastende Erfahrungen gemacht haben. Sie möchten nochmals über die damaligen Erlebnisse sprechen oder darüber, was bis heute nachwirkt, etwa schmerzhafte Narben. Oder sie möchten wissen, wie sie einen guten Boden für die nächste Geburt schaffen können.
«Jede Geburt ist eine Traumatisierung in Mini-Form», meint Prisca Walliser. Doch im Idealfall kann man das Erlebte integrieren, verarbeiten und transformieren. Viele Paare schaffen das. «Doch wenn man es immer wieder wegdrückt, bleiben Restbestände auf der Seele, oft für viele Jahre.» Die Nachbesprechung und Nachbetreuung nach einer Geburt ist daher genauso wichtig wie die Vorbereitung.
*Name der Redaktion bekannt
Die BauernZeitung fragt: Wie haben Sie als Mutter die Geburten Ihrer Kinder erlebt?
[IMG 3]Anna Stocker, Eschenbach LU: Bei drei von unseren fünf Kindern entschied ich mich für eine Hausgeburt mit Hebamme. Zum einen, weil ich die erste Geburt im Spital belastend empfand. Zum anderen, weil ich selbst seit Kleinkindertagen ein Spitaltrauma hatte. Bei den Hausgeburten hatte ich mehr Selbstbestimmung und konnte bewusst und ohne Ablenkung auf meinen Körper eingehen. Mein Spitaltrauma habe ich heute verarbeitet. Ich habe sogar meine Tochter während der ganzen Frühgeburt ihres ersten Kindes im Spital begleitet und erlebte eine Geburt mit viel Verständnis und optimaler Zusammenarbeit.
[IMG 4]Martina Ryser, Ziegelried BE: Ich habe vier Kinder (8, 5 und 3-jährige Zwillinge). Die erste Geburt meiner Tochter dauerte lange und sie wurde gleich danach untersucht. Bei meinem Sohn wurde eingeleitet, und obwohl man oft das Gegenteil hört, war für mich die zweite die angenehmste Geburt. Ich bekam ihn sofort auf die Brust gelegt und die Untersuchung konnte etwas warten. Bei den Zwillingen habe ich mir eine natürliche Geburt gewünscht, aber weil sich das kleine Fräulein nicht gedreht hat, wurde es ein Kaiserschnitt. Etwas Mühe hatte ich, dass sie schon in Woche 36 geholt wurden. jgl
[IMG 5]Franziska Widmer, Meikirch BE: Unsere Söhne sind 11 und 9, unsere Tochter 5. Alle meine Geburten gingen schnell. Bei der ersten ging mein Mann noch in den Stall melken – es werde wohl langsam vorwärtsgehen, dachten wir. Zum Glück war Ostermontag und wenig Verkehr – ich lag hinten quer im Auto, sitzen wäre nicht mehr gegangen. Beim zweiten Sohn stand Strohpressen auf dem Programm. Die anderen schickten meinen Mann vom Feld: «Dänu, geh heim!» Bei der Jüngsten war ich im Geburtshaus. Wir hatten uns fest vorgenommen, früher loszufahren, was uns diesmal auch gelang. jgl
Online Hilfe finden
Traumatische Geburten können lange nachwirken. «Manche Frauen können auch nach fünf Jahren keinen Frieden damit finden», weiss Brigitte Meissner. Die Hebamme aus Winterthur ist Initiantin der Online-Plattform «Netzwerk Verarbeitung Geburt». «Ich wollte ein niederschwelliges Angebot schaffen», erklärt sie dazu. Auf der Website kann man Hebammen in der Schweiz, in Österreich und Deutschland finden, die mindestens 150 Stunden therapeutische Weiterbildung haben.
Reicht es nicht, privat über das Erlebte zu sprechen? Brigitte Meissner sieht Grenzen: «Eine Freundin mit gut gemeinten Ratschlägen kann trösten, hilft aber nur bedingt beim Verarbeiten.» Doch man kann betroffene Frauen ermutigen, die Situation anzunehmen und sich Hilfe zu holen, wenn man so weit ist. Dazu gehört, zuzulassen, dass sich Mütter in den ersten Monaten nach der Geburt oft nicht mit dem Thema auseinandersetzen mögen. Manchmal sind sie erst zu Beginn der nächsten Schwangerschaft so weit, was für Brigitte Meissner auch wichtig ist. «Denn jedes Kind hat eine eigene Geschichte verdient.» cvd
Weitere Informationen: www.geburtsverarbeitung.ch
Gewalt unter der Geburt
Gekniffen. Abgefertigt. Grob oder übergriffig angefasst. Beleidigt. Das sind nur einige Beispiele von körperlicher oder psychischer Gewalt, die Frauen während einer Geburt erleben. Gewalt in der Geburtshilfe ist daher seit 2014 ein Schwerpunktthema der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
In der Schweiz haben laut einer Studie der Berner Fachhochschule 27 Prozent der Frauen während der Geburt «informellen Zwang» erlebt. «Das heisst, sie fühlten sich einseitig informiert, unter Druck gesetzt, eingeschüchtert oder waren mit einer Behandlungsentscheidung nicht einverstanden», schreibt die Fachhochschule dazu.
«Gewalt in der Geburtshilfe manifestiert sich auf sehr unterschiedliche Art», schreibt der Schweizer Verein «Gewaltfreie Geburtshilfe» auf seiner Website. Dazu gehörten:
- Machtmissbrauch durch das medizinische Personal.
- Der Gebärenden Angst machen oder sie zu einer Handlung manipulieren.
- Beleidigen, anschreien, auslachen oder beschimpfen.
- Würdeloser oder respektloser Umgang mit der Gebärenden, ihren Wünschen und ihrer Intimsphäre.
- Pietätloser Umgang mit Nabelschnur, Plazenta oder totgeborenen Kindern.
- Unnötige, häufige oder grobe Untersuchungen oder Eingriffe.
- Unsachgemäss ausgeführter Kristeller-Handgriff.
- Unnötiges oder falsch dosiertes Einleiten der Geburt mit Wehenmittel.
- Herausreissen der Plazenta.
- Die Gebärende unnötig an ihrer Bewegungsfreiheit hindern und/oder Festschnallen. cvd
Website Verein Gewaltfreie Geburtshilfe: www.gewaltfreie-geburtshilfe.ch