Letzte Woche stellte das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen die neue Ernährungspyramide vor (wir berichteten) – und zwei Änderungen sorgten für reichlich Kritik und ein Rauschen im Blätterwald. Und zwar die Tatsache, dass die Hülsenfrüchte von der Stärkestufe zu den Proteinquellen hochgerutscht sind und das rote Fleisch verschwunden ist.

Die neue Lebensmittelpyramide: Der Umwelteffekt von Kaffee wird als gross beurteilt – das Getränk ist aber wohl zu beliebt, um es zu streichen. Empfehlungen aktualisiert In der neuen Lebensmittelpyramide fehlt rotes Fleisch und es hagelt Kritik Friday, 13. September 2024 Die Begründung für die Änderungen lautete, dass neben neuen Erkenntnissen zu Gesundheitsaspekten erstmals auch die Nachhaltigkeit in die Schweizer Ernährungsempfehlungen eingeflossen sei. 

Alle haben eine Meinung

Die Reaktionen kamen mannigfaltig.

  • Proviande, die Branchenorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft, äussert sich empört über die «Marginalisierung» von Fleisch und sieht keinen wissenschaftlichen belegten Grund, den Fleischkonsum zu verringern.
  • Der Schweizer Bäuerinnen- und Landfrauenverband ist der Meinung, dass die «Diversität von Fleischprodukten» nicht berücksichtigt werde. Insbesondere rotes Fleisch als Lieferant «von lebensnotwendigen Nährstoffen wie Eisen und Vitamin B12» werde neu nicht mehr visuell dargestellt.
  • Für den Schweizer Bauernverband ist die «Vermischung» von gesunder Ernährung und dem Faktor Umwelt «unglücklich».
  • Die Schweizer Milchproduzenten halten fest, Milchprodukte würden weiterhin wichtig bleiben für eine gesunde und ausgewogene Ernährung.
  • Der Verband Schweizer Gemüseproduzenten freut sich, dass Gemüse «wenig überraschend» eine wichtige Basis für eine gesunde Ernährung bleibe, bedauert aber gleichzeitig, dass nicht auf den verbandseigenen Saisonkalender hingewiesen werde.
  • Den drei Umweltschutzorganisationen Greenpeace, Birdlife und WWF fehlt «eine relevante Konsumreduktion von Tierprodukten», das sei eine verpasste Chance.
  • Selbst unter den Profis – den Ernährungsfachleuten – gehen derweil die Meinungen über die Gleichwertigkeit von pflanzlichen und tierischen Proteinquellen auseinander.

Immer mehr Adipositas-Erkrankte

Gleichzeitig publizierte die Zeitung «Der Bund» diese Woche alarmierende Zahlen: Weltweit haben immer mehr Menschen Adipositas, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht von einer «Epidemie».

Lange galten Übergewicht und Fettleibigkeit als Wohlstandsphänomen, doch auch Menschen in ärmeren Ländern sind zunehmend betroffen. Das offenbart eine grosse Meta-Auswertung, für die über 3600 Studien aus fast allen Ländern weltweit mit Hunderten Millionen Teilnehmer(innen) analysiert wurden. Demnach hat sich die Adipositas-Rate bei Erwachsenen seit 1990 verdoppelt und bei Kindern und Jugendlichen sogar vervierfacht.

In der Schweiz haben sich laut dem Bundesamt für Gesundheit die durch Übergewicht verursachten Kosten allein von 2002 bis 2012 auf fast 8 Milliarden pro Jahr verdreifacht. Viele Schweizer(innen) würden sich zu wenig bewegen, zu fett- und zu zuckerhaltig und grundsätzlich zu viel essen, heisst es weiter. Die Adipositas-Rate hat sich innerhalb von dreissig Jahren mehr als verdoppelt, auf über 12 Prozent im Jahr 2022.

Kinder essen widersprüchlich

Ist man sich angesichts solcher Schlagzeilen schon bei der eigenen Ernährung oft unsicher oder hat ein schlechtes Gewissen, nimmt das Thema noch an Bedeutung zu, sobald man Kinder hat. Nie war ich so froh um Empfehlungen von Fachleuten, wie als meine beiden Töchter ganz klein waren.

Mittlerweile sind sie in der Grundschule und ihr Essverhalten ist genauso widersprüchlich wie das vieler Kinder. Die Grosse ist ein Schleckmaul. Gleichzeitig isst sie Rüebli, Gurken, Tomaten und Salat im rohen Zustand in rauen Mengen, aber gekochtes Gemüse kaum. Die Kleine isst sämtliche Pasta aus Prinzip nur «blutt», egal, wie lecker die Sauce dazu wäre, dafür liebt sie Früchte, trinkt nur Wasser und rührt Süssigkeiten nicht an. McDonald’s lieben sie beide, was ihr Vater ganz furchtbar findet, ich bin da weniger streng. Schliesslich durften mein Bruder und ich schon mit meinen Eltern gelegentlich bei der goldenen Möwe speisen. Die Eltern argumentierten damit, McDonald’s sei schliesslich ein treuer Abnehmer unserer Kartoffeln.

Es muss schnell gehen oder günstig sein

Mit der gesunden Ernährung ist es also so eine Sache – viel Wissen dazu wäre vorhanden; geht es aber ans Eingemachte, sieht es bei vielen Menschen anders aus. Sei es, weil man selbst nicht besonders gerne oder gut kocht oder die Zeit fehlt – also gibts in der Mittagspause den Fertigsalat oder das Sandwich vom Tankstellenshop. Oder das Familienbudget ist reichlich knapp (die Teuerung lässt grüssen) und lässt es nicht zu, nur Bio oder regionale Produkte zu kaufen.

Die ganze Familie am Tisch

Die Bauernfamilien haben da gewisse Vorteile. Nicht unbedingt, was das prall gefüllte Portemonnaie angeht, aber auf vielen Schweizer Höfen ist noch ein Garten vorhanden und dazu selbst produzierte Lebensmittel – sei es Milch, Fleisch oder eigenes Mehl.

Dazu kommt die schöne Tradition, dass oft noch richtig gekocht wird und man sich als Familie an einen Tisch setzt und isst, Grosseltern, Kinder und Stift inklusive. Damit machen die Bauernfamilien in den Augen der Ernährungsforschung sicher schon viel richtig. Und zu guter Letzt ist es beim Essen so wie überall sonst: Kleine Sünden versüssen das Leben.