Das Schönheitsideal unserer Zeit ist straff, stark, schlank – und oft unerreichbar. Der Druck auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene, einem bestimmten Körperbild zu entsprechen, ist gross. Brigitte Rychen leitet die Fachstelle PEP am Inselspital Bern und kennt die Folgen dieses gesellschaftlichen Trends gut. Im Interview spricht sie über gefährliche Entwicklungen, den Einfluss von Social Media – und warum es auf dem Land manchmal einfacher, aber auch schwieriger sein kann.

Frau Rychen, warum ist die Arbeit Ihrer Fachstelle gerade heute so wichtig?

Brigitte Rychen: Wir erleben derzeit einen enormen gesellschaftlichen Druck. Menschen wollen nicht nur gut aussehen, sondern auch gesund, fit und leistungsfähig sein – und zwar rund um die Uhr. Der Körper ist zu einer Dauerbaustelle geworden, die ständig optimiert werden muss. Das betrifft Kinder, Jugendliche und Erwachsene – in der Stadt wie auf dem Land. Unsere Fachstelle unterstützt Betroffene von Essstörungen oder Muskel-Fitnesssucht mit niederschwelliger, kostenloser Beratung und bietet gleichzeitig Prävention an. Uns ist wichtig, Kompetenzen zu stärken, die das Risiko für Essstörungen senken.[IMG 3]

Welche Formen von Essstörungen begegnen Ihnen besonders häufig?

Am offensichtlichsten ist die Magersucht, also Anorexie. Hier ist die Sorge des Umfelds oft besonders gross, weil das typische Symptom, – dünn-mager geworden – offensichtlich ist. Wir schätzen, dass mindestens die Hälfte unserer Beratungen in diesen Bereich fällt. Aber auch Bulimie und Binge-Eating (Anfallartiges Überessen) sind häufig. Zu nimmt aktuell auch die Muskel-Fitnesssucht. Dabei dreht sich alles um Training, Körperfettabbau und Muskelaufbau – ein paradoxes Ziel, denn Muskeln brauchen einen gewissen Körperfettanteil. Diese Sucht ist gesellschaftlich sehr akzeptiert, fast schon normalisiert: Wer nicht ins Fitnesscenter geht, gilt schon fast als Aussenseiter(in). Bezüglich Adipositas haben wir mittlerweile weniger Beratungen, weil viele Übergewichtsproblematiken heute chirurgisch angegangen werden.

Wer kommt zu Ihnen in die Beratung? Auch Menschen aus der Landwirtschaft?

Ja, unsere Beratungen sind offen für alle – anonym, kostenlos und niederschwellig. Wir beraten Menschen aus der Stadt genauso wie vom Land. Tatsächlich hatten wir auch schon Anfragen aus der Landwirtschaft. Die meisten unserer Klient(innen) sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Aber wir beraten auch Menschen über 30 oder sogar über 60. Die jüngsten Kinder, bei denen wir Eltern beraten, sind etwa acht Jahre alt. Essstörungen gibt es überall. In der Stadt gibt es oft mehr Vergleichsmöglichkeiten, mehr Sichtbarkeit – auf dem Land dafür mehr soziale Kontrolle. Das hat Vor- und Nachteile.

Welche Rolle spielt die soziale Kontrolle in kleinen Gemeinden?

Eine grosse. In Dörfern kennt jeder jeden – das kann Rückhalt bedeuten, aber auch enormen Druck: Schuldzuweisungen, Scham, das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Wir haben einmal eine Veranstaltung zum Thema Körperbild in zwei Dörfern in Graubünden organisiert – es kam niemand. Gerade über Eltern, deren Kinder in eine Essstörung rutschen, wird schnell gesagt: «Was machen die denn falsch?» Ich habe kürzlich eine junge Mutter beraten, deren sechsjährige Tochter sehr dünn, aber ein gesundes, munteres und fröhliches Kind ist. Die Grosseltern, die im gleichen Haus wohnen, fragen, was das Mädchen denn esse, die Nachbarn spekulieren, ob es krank sei.

Und wie sieht es mit der familiären Esskultur aus – zum Beispiel auf einem Bauernhof?

Die spielt eine zentrale Rolle. Kinder lernen durch Vorbilder – auch beim Essen. Wenn zu Hause ein entspannter, genussvoller Umgang mit Essen vorgelebt wird, kann das ein Schutzfaktor sein. Zwang und Kontrolle dagegen sind kontraproduktiv. Gerade in der Landwirtschaft essen Erwachsene oft mehr, weil sie körperlich hart arbeiten – das ist normal. Und bitte: keine Kommentare wie «Du musst aufessen.» Diese Sprüche stammen aus der Generation unserer Großeltern und waren zu Kriegszeiten berechtigt, heute aber nicht mehr. Generell sollten Körper und Aussehen nicht kommentiert werden – weder negativ noch positiv. Da bin ich rigide – auch in der Klasse, denn ich bin noch zwei Tage pro Woche als Lehrerin tätig. Ich erkläre den Kindern, dass solche Kommentare verletzend sind und grosse Folgen für das betroffene Kind haben können.

Was sind Warnzeichen, auf die man achten sollte?

Wenn sich das Essverhalten eines Menschen stark verändert – etwa plötzlich sehr kleine oder grosse Mengen gegessen werden. Wenn jemand oft müde ist, sich zurückzieht oder depressiv wirkt. Wenn das Thema Essen den Alltag dominiert – also, wenn sich alles darum dreht, was, wie viel und wann gegessen wird oder was «erlaubt» ist. Auch exzessives Sporttreiben kann ein Hinweis sein. Kommentare wie «Ich will abnehmen», obwohl das gar nicht notwendig ist, sollten ebenfalls ernst genommen werden.

Gibt es auf dem Land genügend Anlaufstellen?

Hilfe ist auf dem Land oft schwerer zugänglich, das geht in die gleiche Richtung wie bei der medizinischen Versorgung generell. Die Wege sind weit, die Wartezeiten für ein therapeutisches Setting lang. Für Beratung können wir online oder telefonisch viel auffangen, aber für eine langfristige Therapie braucht es eine gute Versorgungsstruktur – und daran mangelt es im ländlichen Raum.

Wie erleben Sie die Wirkung von Social Media – auch bei Landfrauen?

Social Media wirkt überall – vor allem negativ auf Menschen mit geringem Selbstwertgefühl und Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. In der Stadt ist der Druck durch ständige Vergleichsmöglichkeiten in der Öffentlichkeit vielleicht noch etwas stärker. Stadt- wie Landjugendliche wissen zwar theoretisch, dass Bilder auf Social Media bearbeitet sind, aber emotional können sie das schwer einordnen. Es heisst, wer viel auf Social Media unterwegs ist, konsumiert bis zu 5000 bearbeitete Bilder von menschlichen Körpern pro Woche. Diese Bilder verschieben im Kopf die Norm – unser Empfinden von «normal» verändert sich. Landkinder haben oft mehr Möglichkeiten, draußen und damit offline zu spielen. In den Workshops mit Schüler(innen) beobachte ich, dass Landkinder tendenziell ein positiveres und gesünderes Körperbild haben.

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Gibt es Strategien, um sich von Social Media nicht verunsichern zu lassen?

Ganz wichtig ist der Austausch. Eltern und Lehrpersonen sollten mit Kindern und Jugendlichen im Gespräch bleiben – nicht im Sinne von Kritik, sondern mit echtem Interesse: Was findest du an dieser Person schön? Warum? Gleichzeitig sollte Aussehen nicht ständig Thema sein. Auch ein humorvoller Umgang mit sich selbst hilft. Niemand ist perfekt. Und: Influencer sind keine echten Freund(innen) – auch wenn sie dieses Gefühl vermitteln. Das ist ein Geschäft. Aber wenn jemand einsam ist, kann dieses Gefühl, dass jemand quasi «seine Stube» mit einem teilt, durchaus anziehend wirken. Deshalb sollte man auch die Einsamkeit von jungen Menschen im Blick behalten. Problematisch ist auch, dass Kinder heute kleidungstechnisch zu kleinen Erwachsenen gemacht werden – Stichwort eng geschnittene Mädchenkleider oder Markenturnschuhe für Babys. Im Ernst: Warum braucht ein Kleinkind Nike-Schuhe? Oder Schüler(innen) – da erstaunt mich immer wieder, wie früh sie ein Handy besitzen oder eine Smartwatch tragen.

Spüren Sie einen gesellschaftlichen Wandel beim Thema Körperbild?

Ich denke, im Kopf ist viel angekommen. Viele Menschen wissen, dass gängige Schönheitsideale problematisch sind. Aber die Umsetzung im Alltag ist schwierig. Der Wunsch, dazuzugehören, nicht aus der Norm zu fallen, ist nach wie vor sehr präsent. Ich sehe bei Jugendlichen ein wachsendes Bewusstsein – sie sagen häufiger, man solle sich akzeptieren, wie man ist. Aber gräbt man tiefer, kommen trotzdem Sorgen, Ängste und Unsicherheiten zum Vorschein. Ich wünsche mir einen Wandel – aber man muss sich auch bewusst ist, dass hier eine ganze Industrie dahinter steht. Die Schönheits- und Fitnessbranche lebt davon, dass wir unzufrieden sind. Denn wer schafft sich schon gerne selbst ab? Ausserdem müssen immer neue Märkte erschlossen werden: Frauen rasieren sich längst die Beine, fast alle benutzen Deos – jetzt geht es an die Männer, mit Epilierern, oder es werden Kinderparfüms verkauft.

Ihr Fazit lautet demnach?

Wir müssen also immer wieder lernen mit den Herausforderungen des Lebens, auch im Umgang mit dem eigenen Körper, umzugehen. Lernen zu spüren, was uns selber gut tut, was wir brauchen. Und zu lernen, den Unzulänglicheiten unseres Körpers mit einer Portion Humor zu begegnen und ihn damit immer wieder auch zu respektieren, wie er ist.

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