«In meinem Club rund ein Drittel», schätzt Karin Niederberger aus Malix GR als Antwort auf die Frage, wie viele der Jodlerinnen und Jodler einen bäuerlichen Hintergrund haben. Sie stammt selbst aus einer Bauernfamilie und ist Zentralpräsidentin des Eidgenössischen Jodlerverbandes. «Es sind weniger geworden, wie in der übrigen Gesellschaft auch. Doch gesamtschweizerisch hat es bei den Jodlern immer noch viele Menschen aus bäuerlichen Kreisen.»
In der Wahrnehmung scheinen Jodeln und die Volksmusik generell für viele eng mit dem ländlichen und bäuerlichen Leben verbunden zu sein. Doch stimmt das so? Die Wechselausstellung «Volksmusik» im Forum für Schweizer Geschichte in Schwyz widmet sich dem Thema mit all seinen Facetten.
Ländler zum Tanzen
«Was viele nicht wissen: Ländlermusik war ursprünglich eine Tanzmusik für die Unterschichten», erklärt Sibylle Gerber, die Kuratorin der Ausstellung. Ob Schottisch, Polka, Mazurka oder Ländler: An den Tanzabenden ergab sich die seltene Gelegenheit, potenzielle Ehegattinnen oder -gatten kennenzulernen. Man tanzte oft bis in die frühen Morgenstunden. Die Tänzerinnen und Tänzer bezahlten für die Lieder, die gespielt wurden – entweder für einzelne Stücke, oder sie kaufen sich «Tanzbändel» für mehrere Lieder. Erst während des Zweiten Weltkriegs verbreitete das Radio zur Stärkung des nationalen Zusammenhalts Ländlermusik in der ganzen Schweiz.[IMG 2]
Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen vier prägende Elemente der Volksmusik: Schwyzerörgeli, Alphorn, Hackbrett und Jodel. Die Entwicklung des Schwyzerörgelis revolutionierte um 1883 die Volksmusik. Denn es brachte gleichzeitig Melodie, Begleitung und Rhythmus hervor. Damit verdrängte es vielerorts die bisher üblichen Streich- und Blasinstrumente. Es wurde gerade auch im ländlichen Raum populär, da oft das Geld oder die Instrumente fehlten. Die Hersteller Eichhorn, Nussbaumer und Salvisberg perfektionierten den zunächst als simpel beschriebenen «Chuedräckler» zu einem eigenständigen Instrument.
Das Alphorn als Symbol
«Zu Ehren des Alphorns» lautete das Motto des ersten Unspunnenfests 1805. Dessen Ziel war es, die Berner Stadt- und Landbevölkerung durch alte Traditionen zu vereinen. In den kommenden Jahren wurde das Alphornspielen bewusst gefördert und ab 1920 übernahm der Jodlerverband die Aufgabe, das Spielen des Alphorns zu fördern. Seither gilt es als Nationalsymbol der Schweiz. Dazu kam, dass Alphorn spielende Hirtinnen und Hirten sich auch touristisch gut vermarkten liessen.
Das Hackbrett stammt ursprünglich aus Persien und fand seinen Weg vermutlich durch Wandermusikanten in die Schweiz. Im Säntisgebiet wurde es zum typischen Kennzeichen von Tanzmusik. Die Zither ist im Gegensatz zum Hackbrett kein Schlag-, sondern ein Zupfinstrument. Die geringen Anschaffungskosten und die einfache Spielweise machten die Zither ab dem 19. Jahrhundert zu einem beliebten Hausmusik-Instrument. Oftmals spielten es Frauen.
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Kuhreihen förderten Heimweh
Aus der Welt der Senninnen und Hirten kommt der sogenannte «Löckler», früher auch «Kuhreihen» genannt. Beim Alpsegen rufen sie noch heute durch einen Bet-Trichter verschiedene Heilige zum Schutz an. Das faszinierte bereits früher auch Flachländer. Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau verbreitete sogar die Legende, dass Söldner vor lauter Heimweh desertierten, wenn sie der berühmte Kuhreihen «Ranz des Vaches» hörten. Das Lied sei daher verboten gewesen.
Der Eidgenössische Jodlerverband entstand 1910 mit dem Ziel, die Schweizer Tradition gegen äussere Einflüsse abzugrenzen. Die Jodlerinnen waren übrigens im 19. Jahrhundert aus den Jodelchören verschwunden – einzig die Vorjodlerinnen sangen noch mit. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden diese Grenzen wieder aufgebrochen.
Bis heute unterscheidet man zwischen dem Jodellied mit einem gejodelten Refrain und gesungenem Strophentext und dem textlosen Naturjodel. Dieser variiert regional nicht nur im Klang, sondern auch im Namen: Juuz, Juiz, Zäuerli oder Ruggusseli. Jodeln ist aber keine Schweizer Erfindung: Jodelartige Gesänge finden sich im ganzen Alpenraum, in Skandinavien, Georgien oder auch in Zentralafrika.
Wie in anderen Lebensbereichen hat auch bei der Volksmusik jede Region der Schweiz ihre Besonderheiten. In der Innerschweiz setzte sich das Schwyzerörgeli durch und machte die Region zur Hochburg der Ländlermusik. Im Tessin waren Bandellas beliebt, kleinere, informelle Blasmusikformationen, die nach Gehör und ohne Noten an Volksfesten zum Tanz aufspielen. Streichmusik bleibt im Appenzell ein zentraler Teil der Volksmusik, während sie anderswo verdrängt wurde. 1892 entstand die «Original Appenzeller Streichmusik», ein Quintett mit zwei Geigen, Hackbrett, Cello und Streichbass.
Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war die Bündner Volksmusik als «Fränzli-» oder «Sepplimusik» bekannt. Die «Fränzlis», mit Fränzli Waser als prägende Figur, waren Jenische aus dem Engadin, die viele Einflüsse aus Norditalien in die Schweizer Volksmusik einbrachten. In der Romandie weiss niemand, wie die alte Westschweizer Volksmusik klingt, denn vieles ging durch das Tanzverbot in der Zeit der Reformation verloren.
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Eine Melodien-Sammlung
Auf den Spuren der ursprünglichen Volksmusik reiste Hanny Christen Mitte des 20. Jahrhunderts mit Aufnahmegerät und Notizbuch durch die ganze Schweiz und hielt in Gesprächen mit der Landbevölkerung alte Tanzmusik fest. Sie hinterliess mit rund 12 000 Melodien eine riesige Sammlung.
Das, was wir heute unter Ländlermusik verstehen, erlebte seine Hochblüte in der Stadt Zürich. Innerschweizer Musiker brachten ab den 1920er-Jahren den neuen, schnellen Örgeli-Stil in die Beizen des Niederdorfs. «Dort waren die Bauern nicht wirklich dabei», erklärt Dieter Ringli. «Wer Kühe daheim hat, kann kaum am Abend auswärts Tanzmusik machen. Die Musikerinnen und Musiker kamen eher aus dem Handwerk und dem Gewerbe.» Eine Ausnahme sei Res Gewerder aus dem Moutathal gewesen, weil sich seine Frau um den Hof kümmerte.
Mit der Landesausstellung 1939 wurde die Innerschweizer Folklore zur gesamtschweizerischen Einheit erhoben und übers Radio ins ganze Land ausgestrahlt, zur Stärkung des nationalen Zusammenhalts.
«Ländlerpapst» Wysel Gyr
Ab den 1960er-Jahren kam die Volksmusik vermehrt ins Deutschschweizer Fernsehen. Moderator Wysel Gyr hatte bald einmal den Übernamen «Ländlerpapst». Ebenfalls ab den 1960er Jahren kamen Gegen- und Neuerungsbewegungen auf – sie wollten die Volksmusik wiederbeleben. Die «Neue» Volksmusik entstand.
Gesellschaftliche Einflüsse prägten auch die Volksmusik. Während die einen die Lieder unverändert bewahren wollen, versuchen andere, neue Wege zu gehen. Sie jodelten zu Technobeats, schrieben Liedtexte um oder liessen sich vom Jazz inspirieren. Seit 2007 kann man an der Hochschule Luzern Volksmusik studieren.
Salonfähig geworden
«Die Volksmusik hat inzwischen eine gewisse Salonfähigkeit bei den Jungen», sagt Andrea Schmid vom Ressort Musik beim Verband Schweizer Volksmusik. «In der öffentlichen Wahrnehmung besteht ein enger Zusammenhang zur ländlichen Bevölkerung. Gespielt wird sie aber eher von Leuten aus der Stadt.» Was an Hochschule Luzern passiere, sei zudem etwas ganz anderes als die Stimmung an einer Stubete. «Die Frage ist auch: Soll es Musik sein, der man still zuhört oder ‹Funktionsmusik›, zu der man tanzen kann?»
Es gibt heute viele Arten, Volksmusik zu machen – oft unabhängig davon, ob man in der Stadt oder auf dem Land lebt. «Für die einzelne Person, die Musik macht, ist die Geschichte oft nicht das relevanteste», so Andrea Schmid. Doch nach wie vor haftet der Volksmusik etwas Ursprüngliches an. Oder wie es Andrea Schmid ausdrückt: «Sie hat oft etwas Handgestricktes und präsentiert sich neben Klassik, Rock und Pop als musikalisches Anti-Establishment.»
Die Ausstellung
Wie klingt eigentlich die Schweiz? Die Wechselausstellung «Volksmusik» im Forum Schweizer Geschichte Schwyz widmet sich den vielen Facetten der populären Schweizer Musikkultur – von traditionellen Instrumenten über die Stimmen und Gesichter der Volksmusik bis hin zu modernen Interpretationen. Die Ausstellung geht auf Spurensuche und zeigt, wie der Mythos Volksmusik konstruiert wurde und wird, welche Instrumente typisch sind und wie diese Musik klingt. Mitmachen ist erwünscht – auf der «Stubete-Bühne» darf geörgelt, gejodelt und getanzt werden.
Weitere Informationen: www.forumschwyz.ch