Ich fahre auf der schmalen Strasse hinauf in den Neuenburger Jura. Die Landschaft ist offen, Weiden mit Rindern und Pferden wechseln sich mit Wäldern ab, vereinzelt stehen die typischen Wettertannen. Die Höfe liegen weit auseinander, kein Verkehr, keine Autobahn. Hier gibt es noch Platz.

Begegnung auf dem Hof

Der Hof Le Creux bei Le Cerneux-Péquignot NE ist mein Ziel. Dort leben Heidi Gurtner und Hansruedi Arn. Ihr Alltag besteht im Wesentlichen aus Aufräumen. Sieben Tage die Woche.

Als ich ankomme, laufen mir die beiden mit Werkzeug in der Hand entgegen. Er sass eben noch auf dem Bagger, sie war am Blackenstechen. Direkt vor mir zieht Hansruedi einen Stofffetzen aus der Erde. «Das war einmal ein Sofa», sagt er und wirft den Stoffrest auf einen Haufen. Hier liegen überall solche Haufen mit Material, das auf Wiesland nichts zu suchen hätte. Ich will über eine Mischung aus Mist, verrottetem Material, Steinen und Brandschutt steigen, als mich Hansruedi warnt: «Pass auf, dass du nicht einsinkst.»

«Wir brauchen nicht viel – wir sind glücklich.»

Heidi Gurtner, Bäuerin im Neuenburger Jura, über ihren Hof.

«Da liegen ja Knochen», sage ich leise, mit Blick vor meine Füsse. «Das sind Kälber, die hier verendet sind», erklärt Heidi. Sie zeigt mir ein Schulterblatt und einen Unterkiefer. «Überall auf dem Gelände findet man solche Überreste», erklärt sie mir.

Es ist ein Ort, an dem viel geschehen ist. Für Heidi und Hansruedi ist er trotzdem zur Heimat geworden, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie in der Region so herzlich aufgenommen wurden, wie sie erzählen. Die Lage ist beeindruckend, ein wenig scheint gar die Sonne durch die Wolken – doch an diesem Julitag ist es kühl. Das Nachbardorf La Brévine gilt als kältester Ort der Schweiz. «Im Winter gibt es hier Temperaturen bis minus 30 Grad», sagt Heidi. Ein Bauernhaus, das man in solchen Wintern heizen könnte, haben sie nicht. Sie wohnen in La Brévine in einer kleinen Wohnung. Tagsüber «hausen» die beiden in einem Wohnwagen.

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Hof mit Vergangenheit

Hansruedi Arn, über achtzig Jahre alt, führte viele Jahre eine grosse Firma im Kanton Bern, die er mittlerweile an seine Söhne übergeben hat. Daneben war er Bauer, auch wenn er den Beruf nicht erlernt hatte. Mit Landwirtschaft hatte er beruflich immer etwas zu tun. Und so auch seine Partnerin Heidi Gurtner, die seit Jahrzehnten für Pferde – genauer gesagt für die Urfreiberger – lebt. Diese Pferderasse ist die einzige ursprüngliche Schweizer Rasse, in deren Zucht seit den 1950er-Jahren kein Fremdblut mehr eingeführt wurde. Die Tiere sind kompakt, kräftig, widerstandsfähig und für das raue Jura-Klima wie geschaffen. Für die beiden sind sie mehr als eine Leidenschaft – sie sehen in ihnen ein Kulturgut, das man erhalten muss. «Wir haben den Hof hier gekauft, weil wir etwas Grösseres für die Tiere suchten und auch mehr Weidefläche wollten», erzählt Heidi. Der vorherige Betrieb in Niederbipp BE war deutlich kleiner, und viele der Flächen lagen nicht direkt beim Stall. «Wir mussten die Tiere zum Weiden verladen. Das war auf Dauer keine Lösung», sagt Heidi.

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Der Hof Le Creux wurde aus einer Konkursmasse verkauft. Doch der frühere Besitzer wehrte sich heftig gegen die Zwangsversteigerung. Es kam zu Auseinandersetzungen, Vorwürfen, Berichten in landwirtschaftlichen Medien. «Wir wurden dargestellt, als hätten wir uns hier etwas erschlichen», sagt Heidi. «Das hat wehgetan.»

Heute ist der Fall endlich abgeschlossen. Rechtlich sind sie die Eigentümer, an den Vorwürfen war nichts dran. Trotzdem begleitet die Vergangenheit sie bei jedem Schritt.

Aufräumen und umstellen

64 Hektaren umfasst der Betrieb. Nach der Übernahme haben die beiden die Produktionsweise auf Bio umgestellt – aber die Bewirtschaftung ist in weiten Teilen noch eine grosse Baustelle. Glas, Alteisen, Stofffetzen und viel Brandschutt liegen verteilt, dazu die Reste der Tiere.

«Wir haben alles fotografiert, dokumentiert, gefilmt», sagt Heidi. «Anders geht es nicht.»

Wir laufen vom Land zurück zu einer Ruine. Vor zwei Jahren brannte hier das alte Bauernhaus bis auf die Grundmauern nieder. Die Ursache ist ungeklärt. Heute stehen nur noch diese Mauern – alt, denkmalgeschützt, aber ohne Nutzen. Blachen, die einmal darüber gespannt waren, hat der Wind zerfetzt. Der Regen frisst die Steine an.

Nur der Käsekeller ist noch intakt. Er stammt, wie der Rest des zerstörten Gebäudes, aus dem 18. Jahrhundert und ist sorgfältig mit Holz und Planen abgedeckt – Hansruedi Arns Sohn hat das eigenhändig gemacht. «Zum Glück», sagt Heidi und ist sicher, dass die Witterung auch diesen Keller zerstört hätte. «Dort konnten wir im letzten Winter einiges lagern und vor den Minustemperaturen schützen», sagt sie.

Die Zeit vergeht, und das Wetter tut am abgebrannten Gebäude sein Übriges. Irgendwann werden die Mauern verfallen. Die Natur erobert sich diesen Platz offensichtlich zurück. Wo einst Kuhmist an der Stallwand klebte, haben Vögel zu nisten begonnen.

Mein Blick schweift hinüber zum einzigen intakten Bereich dieses Hofareals. Da steht ein gut aufgeräumter Schopf, davor der Wohnwagen und ein Container. Heidi und Hansruedi haben wenig Platz. «Wir brauchen nicht viel – es ist ein einfaches Leben, aber wir sind glücklich hier und möchten nicht mehr zurück», sagt Heidi.

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Blick nach vorn

Ein ganz schmaler Zugang führt ins Innere des gemütlich eingerichteten Wohnwagens. Auf dem Tisch in der kleinen Ecke liegen Baupläne. Sie sind erst vor ein paar Tagen bei den beiden angekommen. Endlich – ist aus dem Gespräch mit den beiden zu spüren.

Die alten Mauern der Ruine sollen auf 1,7 Meter abgetragen und mit Erde aufgefüllt werden. Darauf soll dann ein neuer Milchviehstall entstehen – in der Grösse des gesamten einstigen Bauernhauses, das neben dem Anbindestall für Kühe auch die Betriebsleiterwohnung beherbergte. Künftig darf dort aber nur noch Stall sein. Etwas oberhalb davon ist ein Zweifamilienhaus geplant. «Das ist Vorschrift», erklärt Hansruedi. «Heute baut man Stall und Wohnhaus getrennt.»

«Ich werde nicht erleben, dass alles fertig ist.»

Hansruedi Arn, Bauer im Neuenburger Jura, über die Zuukunft.

Er selbst macht sich aber im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Betriebs keine Illusionen. Während Heidi draussen im Schopf Kaffeerahm holt, schaut Hansruedi zum Fenster hinaus und meint: «Ich werde nicht mehr erleben, dass alles fertig ist.» Dennoch hofft er, dass alles, was sie hier begonnen und investiert haben, eine Zukunft hat – schon alleine für den schönen Ort, der das hier dereinst wieder einmal sein kann, wenn das Land wieder Wiese und nicht mehr Müllhalde ist.

Mehr als ein Bauernhof

Heidi kommt zurück. Sie sieht den Hof nicht nur als Betrieb. Sie sieht darin einen Auftrag. «Wenn wir diese Tiere, die Weiden und diese Landschaft aufgeben, verschwindet etwas, das uns allen gehört», sagt sie.

In den ursprünglichen Tierrassen, den einzigartigen Landschaften, dem Wies- und Weideland und den für viele Regionen typischen Bauten sieht sie das Vermächtnis der Schweiz. Zeit, zu handeln. Hansruedi ergänzt: «Wir müssen Vielfalt erhalten – im Land, bei den Tieren, in der Landwirtschaft. Wenn alles gleich ist, fehlt uns die Reserve. Wir brauchen robuste Linien, wir brauchen genetische Breite.»

Draussen ziehen Wolken über den Jura. Die Wettertannen stehen still, Rinder und Pferde grasen, als wäre die Welt in Ordnung. Doch unter der Oberfläche liegt noch viel Vergangenheit – und darüber der Wille zweier Menschen, daraus Zukunft zu machen.