Ein Traktor ist für mich immer ein Highlight! Ich bin in meinem Leben so viel Auto gefahren, dass es viel spannender ist, auf so einem grossen Traktor zu sitzen», meint Hans Leutenegger lachend, als er aus der Kabine des Fendt Vario 415 klettert. Hans – «Hausi, einfach Hausi» – Leutenegger ist zu Gast im Restaurant Löwen im bernischen Kernenreid. Hier macht er gerne Halt, wenn er durchs Schweizer Mittelland fährt, denn der Gasthof ist bekannt als «Schwingerbeiz» mit währschafter Kost und guter Gesellschaft.

«Wir hatten ein kleines ‹Buure-Gwärbli›»

Hans Leutenegger ist in «sehr einfache Verhältnisse» geboren worden, wie er selber sagt. Niemand hätte geahnt, wo sein Weg den Bauernbuben Leutenegger dereinst hinführen sollte. Und niemand hätte vorausgesagt, was er entlang dieses Weges alles erleben würde. So ist die Liste seiner Erfolge lang; Leutenegger hat sich im Sport als vierfacher eidgenössischer Kranzturner sowie als Olympiasieger und Weltmeister im Viererbob einen Namen gemacht; er hat in Filmen und TV-Serien mitgespielt und als Geschäftsmann Millionen verdient. Seine Wurzeln aber hat Hausi Leutenegger in einem kleinen Weiler bei Bichelsee im Thurgau.

«Wir hatten ein kleines ‹Buuregwärbli›», beginnt Hausi Leutenegger zu erzählen, «wirklich ein sehr kleines.» Sein Vater sei gelernter Bäcker gewesen, habe aber bei der Firma Sulzer in Winterthur als Magaziner arbeiten müssen. So blieb das Bauern daheim ein Nebenerwerb, der dennoch allen viel zu tun gab. Die Kinder hätten früh und viel helfen und später das Gewerbe auch abwechselnd führen müssen, erinnert sich Leutenegger. «Immer, wenn ein Sohn aus der Lehre kam, musste er sich ein Jahr lang um den Kleinbetrieb kümmern, mit allem drum und dran.»

«Wer nicht gut ist zu Tieren, ist nicht gut zu Menschen.»

Hausi Leutenegger ist ein grosser Tierfreund.

So übernahm auch der junge Hausi nach seiner Schulzeit die Verantwortung für die «Buurerei», bis er eine Lehre als Bauschlosser begann. «Wir hatten vier Kühe und einen Stier», zählt er auf, für jedes Tier hebt er einen Finger. «Zu den Kühen kamen drei Schweine. Also wirklich ein kleines Gewerbe.» Das bedeutete viel Arbeit, denn mechanisiert war damals in Bichelsee nicht viel: «Als im Thurgau die ersten Traktoren aufkamen, konnte sich nur ein einziger Bauer bei uns im Dorf so eine Maschine leisten. Wir haben daheim mit den Kühen gefuhrwerkt. Alles wurde von Hand und mit den Tieren gemacht.»

Die bäuerliche Kindheit prägt Hausi fürs Leben

Nachdem Hausi Leutenegger Abendessen bestellt hat – Hackbraten, seine Leibspeise — verweilt er bei den Tieren. «Das Schönste war jeweils, wenn meine Chüngel Nachwuchs bekommen haben.» Ein geschickter Chüngelizüchter und -händler sei er gewesen, fährt er fort. Junge Kaninchen seien stets ein erfreulicher und willkommener Anblick gewesen. Ein gewisses Geschick für Tiere bewies der junge Leutenegger aber nicht nur mit Kaninchen, sondern auch mit Mäusen – und auch da gab es die Gelegenheit, ein Sackgeld zu verdienen. «Ich war weit und breit der beste Mauser, denn ich habe begriffen, zu welchen Zeiten die Mäuse umherlaufen», verrät Leutenegger und zeichnet mit dem Finger Linien auf das Tischtuch.

Chrut u Rüebli Hackbraten oder Rindsfilet? – 9 Entweder-oder-Fragen an Hausi Leutenegger Friday, 18. November 2022 «Als Beweis für unseren Fang mussten wir die Mäuseschwänze einem Kontrolleur vorzeigen. Pro Schwanz gab es eine Prämie.» Er habe aus einem Schwanz aber jeweils zwei oder sogar drei gemacht und sie dem alten Bauern, der nicht mehr so scharfe Augen hatte, präsentiert. An der Mauserei habe er nicht schlecht verdient, lacht Leutenegger und zwinkert. Ein geschickter Geschäftsmann schon in jungen Jahren.

Wie hat seine Kindheit in einfachen bäuerlichen Verhältnissen den späteren Multimillionär geprägt? «Chrampfä, chrampfä, chrampfä! Wir mussten immer viel arbeiten, wie das bei Bauern eben so ist», antwortet Hausi Leutenegger ohne zu zögern. Die Einstellung zur Arbeit, die in der Landwirtschaft herrsche, die habe er sein Leben lang beibehalten. Obwohl ihn sein Weg weit vom heimischen Höfli wegführte, sind ihm die Landwirtschaft und vor allem die Tiere bis heute nahe geblieben. Er habe als Kind selber Raben gezähmt und sei noch heute ein Vogelfreund. Auch Kühe habe er sehr gern, sagt er. Noch heute schwinge er sich gerne aufs Velo und fahre über Land, dann schaue er sich jeden Vogelschwarm und jede Kuhherde an, «es gibt nichts Schöneres». Was er hingegen nicht gerne sehe, seien Tiere, die nicht recht gehalten würden. Das lasse auf den Charakter der Besitzer schliessen: «Wer nicht gut ist zu Tieren, der ist auch nicht gut zu Menschen», ist sich Hausi sicher.

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Den elterlichen Kleinbauernhof im Weiler Niederhofen gibt es indes schon lange nicht mehr. «Ich war der letzte Sohn, der das Gewerbe führte, mein jüngerer Bruder Hugo wollte nicht mehr, also hat mein Vater alles verkauft und verschenkt.» Dennoch blieb ein familiärer Bezug zur Landwirtschaft erhalten: Seine mittlerweile verstorbene Schwester sei später mit einem «Grossbauern» verheiratet gewesen, fährt Hausi fort und holt mit den Händen aus. «Da haben wir sage und schreibe dreimal im Jahr Metzgete gemacht, das waren immer schöne Abende.»

«Lumpenordnung im Laufstall» und der Geruch nach Heimat

Seit dem Tod seiner Schwester ist die Landwirtschaft ein Stück weiter weg gerückt – und doch, eines ist bei Hausi Leutenegger geblieben: «Wenn ich heute auf einen Bauernhof komme, fühle ich mich sofort daheim. Das ist meine Heimat. So bin ich aufgewachsen, das bleibt in einem.» Bei den Bauern herrsche indes nicht nur eine gute Einstellung zur Arbeit, sondern auch zum Menschen sowie zum Tier, ist Hausi überzeugt. «Deshalb fühle ich mich unter Bauern wohl.» Obwohl er viel Geld verdient habe und in der Welt herumgekommen sei, sei er im Grunde immer derselbe «einfache Kerli, der gleiche Hausi» geblieben.

Wenn er auf einem Hof zu Gast sei, werfe er auch immer einen Blick in den Stall, berichtet Leutenegger. «Wie geht es dem Vieh, welche Rasse steht im Stall, was ist da für ein Bauer am Werk? Das ist immer aufschlussreich», findet er. Den modernen Ställen könne er allerdings nicht mehr so viel abgewinnen, meint er dann. Gar nicht begeistert zeigt er sich von Laufställen, denn «da herrscht doch eine Lumpenordnung, das gefällt mir nicht. Für mich müssen die Kühe schön dastehen, eine nach der anderen, die Schwänze ordentlich hochgebunden. Das gibt Ordnung und Ruhe.»

Inzwischen steht das Abendessen auf dem Tisch. Im Löwen isst man gut und nicht zu knapp; der Wirt Gody Schranz weiss, was seine Gäste mögen. Für einen Moment wird es still am Tisch, Hausi Leutenegger geniesst den Hackbraten, den er jedem Filet vorziehen würde.

«​Wir mussten immer viel arbeiten, wie das bei Bauern eben so ist.»

Bei Leuteneggers mussten alle mit anpacken.

Er sei ganz «alte Schule», könne noch heute von Hand melken, fährt der 82-Jährige nach dem Essen fort und zeigt die Bewegungen in der Luft vor. Beim Arbeiten werde man eben schmutzig, fährt er fort, und Stall- oder Güllegeruch störe ihn ganz und gar nicht. Im Gegenteil, meint er lachend. Wenn er über Land fahre und es nach Gülle rieche, dann «heimele» es ihm gar ein wenig.

Noch immer schmunzelnd nimmt Hausi Leutenegger einen Schluck Wasser. Er ist mit dem Auto unterwegs. Sonst hätte er wohl einen sauren Most bestellt, der ist ihm immer lieber als Wein oder Bier. «Wein trinke ich nur, wenn ich muss», sagt er entschieden. Auch in diesem Punkt ist Hausi also ein typischer Thurgauer, oder eben ein «(M)ostschweizer».

«Menschenkenntnis ist eine meiner wichtigsten Stärken»

«Ich bin ein einfacher Mann – immer gewesen und immer geblieben», stellt Hausi Leutenegger erneut klar und wird gleich ein wenig ernster. «Ich habe nicht studiert, kann keinen Doktortitel vorweisen. Und doch habe ich etwas aus mir gemacht und sehr viel Geld verdient.» Es gebe ein paar Dinge, die er gut könne und die ihm im Leben viel gebracht hätten: «Ich kann ein paar Dinge besonders gut: Rechnen, organisieren und mit Menschen umgehen. Ich habe eine gute Menschenkenntnis», sagt er. «Wenn ich mich an einen Tisch mit Leuten setze, habe ich fünf Minuten später die ganze Runde analysiert und weiss, an wen ich mich zu halten habe.»

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Diese Fähigkeiten haben Leutenegger auch in beruflicher Hinsicht viel gebracht. Schon 1965 gründete er in Genf eine Firma, die zunächst darauf ausgerichtet war, Monteure für Kurzarbeits-Einsätze zu organisieren. Die Hans Leutenegger AG entwickelte sich in der Folge rasch und wurde grösser und grösser. Bald erweiterte man das Angebot und spezialisierte sich auf Personaldienstleistungen in den Bereichen Bau, Chemie, Technik und Industrie. Heute beschäftigt das Unternehmen an verschiedenen Standorten rund 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Was braucht es, um eine Firma so weit zu bringen? «Man muss die Menschen mögen. Es ist ganz wichtig, dass man gute Leute um sich hat. Diese muss man fördern, fordern und unterstützen. Die Leute müssen gern für dich arbeiten, sonst verlierst du sie», spricht der Unternehmer Leutenegger aus langjähriger Erfahrung. Erfolg habe man gemeinsam, betont er. Und: «Die Wertschätzung muss echt und gegenseitig sein. Das beginnt im ganz Kleinen: Wenn ich am Morgen einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter ein Kompliment mache, freut das die Person möglicherweise den ganzen Tag lang – und mich kostet das gar nichts.»

Das Glück, guten Menschen tatkräftig helfen zu können

[IMG 4]Eine gewisse Grosszügigkeit müsse man im Leben ohnehin an den Tag legen, ist sich Hausi sicher. Das betreffe das familiäre Umfeld, die Angestellten, aber auch Freunde und Bekannte. Und auch Fremde hat Hausi Leutenegger tatkräftig unterstützt: «Mich fragen jedes Jahr viele Organisationen, Stiftungen und Privatpersonen um Geld an. Früher habe ich viel gegeben, es war mir immer eine grosse Freude und Genugtuung, wenn ich helfen konnte.»

Heute seien es jedoch so viele, die etwas von ihm wollten, dass er nicht mehr alle bedenken könne, fügt Leutenegger an. Wenn er aber sehe, dass jemand sich abrackere und dass Not am Mann sei, dann greife er immer gerne zum Portemonnaie, meint er und nennt ein Beispiel: «Ich war vor ein paar Jahren mit dem Velo im Jura oben unterwegs. Da habe ich an einem steilen Hang ein älteres ‹Buurli› und seine Frau von Hand mit einer Sense mähen gesehen. Ich habe Halt gemacht und gefragt, warum sie sich diese Plackerei antun würden. Als der Bauer gemeint hat, das Geld reiche ihm nicht für einen Motormäher, habe ich ihm kurzerhand eine Maschine gekauft.» Es freue ihn immer, wenn er auf diese Weise helfen könne und wenn ein Dank zurückkomme. Das sei für ihn gut investiertes Kapital, meint Hausi. «Es freut mich einfach, wenn ich jemandem helfen oder eine grosse Freude machen kann mit meinem Geld. Was willst du letzten Endes mit viel Geld, du kannst es dereinst ja sowieso nicht mitnehmen.»

Lieber ans Schwingfest als an den Fussballmatch

Sein Leben lang ist Hausi Leutenegger ein Sportler geblieben. Auch wenn die Erfolge im Bobfahren ein halbes Jahrhundert zurückliegen, ist er der Welt des Sports stets verbunden geblieben. Und auch mit dem Sport ist er grosszügig umgegangen. «Ich habe zum Beispiel Xamax Neuenburg lange Jahre als Hauptsponsor unterstützt», berichtet er und macht eine ausholende Geste. Das habe er aus Liebe zur Stadt Neuenburg getan, wo er seine erste Million verdient habe.

Am Eidgenössischen hast du nie Krach, du siehst keine Polizei, niemand wird unnötig laut.

Hausi Leutenegger besucht gerne Schwingfeste.

An Fussballspiele zieht es ihn trotzdem nicht. Der Grund? «Es sind die Leute. Nicht nur die auf dem Platz, sondern auch die Menschen in den Fankurven. Da hast du jedes Mal irgendwo Ärger, am Ende noch Gewalt. Dafür habe ich gar kein Verständnis.» Das Gegenteil findet Hausi an den Schwingfesten. «Wenn es ums Schwingen geht, komme ich sofort ins Schwärmen», meint er und beginnt zu strahlen. «Am Eidgenössischen hast du nie Krach, du siehst keine Polizei, niemand wird unnötig laut. Und auf dem Platz stehen ausschliesslich gute, faire Sportler. Und ganz im Allgemeinen sind die Schwinger auch viel weltoffener als die Leute meinen.»

Wenn Hausi Leutenegger auf einen Schwingplatz kommt, beginnt sogleich das grosse Hallo, überall ist er ein gern gesehener Gast. «Die Leute haben mich gern, weil ich auch die Leute gern habe. Ich hatte viel Erfolg und bin trotzdem normal und auf dem Boden geblieben, damit können viele etwas anfangen.» So erstaunt es nicht, dass Hausi mittlerweile zum Selfie-Profi geworden ist. Er könne kaum ein paar Schritte gehen, bis wieder jemand gerne ein Foto mit ihm machen wolle. «Kein Problem, das mache ich gern. Wenn du Leuten mit so wenig eine kleine Freude machen kannst – weshalb nicht?»

Draussen ist es mittlerweile fast dunkel geworden, die letzten Sonnenstrahlen werfen ein leuchtendes Orange an den Abendhimmel. Für Hausi ist die Zeit des Aufrbruchs gekommen. Er hat heute noch einen weiten Weg vor sich, fährt noch bis in die Ostschweiz, seine alte Heimat. Dort wartet ein volles Postfach auf ihn, Briefe wollen sortiert und Termine arrangiert werden. Wie überall, wo er hinkommt, warten auch dort Menschen, die Hausi Leutenegger treffen wollen. Livio Janett