Es war an einem Freitagabend Mitte Januar kurz nach 20 Uhr. Auf der Stächelegg in der Gemeinde Fankhaus hatte die Kuh Domina Zwillinge geboren. Zum vierten Mal in ihrem Leben, wie Bauer Christian Hirschi erzählt. Die 15-jährige Kuh (Kreuzung zwischen Hinterwälder und Eringer) hat in dreizehn Jahren siebzehn gesunden Kälbern das Leben geschenkt. An jenem Freitagabend blieb die Kuh nach der Geburt in Seitenlage liegen und hörte nicht auf zu pressen. Hirschi war sich sicher, jetzt braucht es einen Tierarzt.
Keine Zufahrt möglich
Draussen war bereits die Nacht angebrochen, in den vergangenen Tagen war viel Schnee gefallen. Christian Hirschi weiss, dass an solchen Tagen sein Betrieb nur zu Fuss oder gar mit Schneeschuhen zu erreichen ist. Der Hof liegt auf 1304 m ü. M. «Wir haben hier oft viel Schnee», sagt Hirschi. Früher habe er die Zufahrt oft noch räumen lassen, heute verzichte er darauf. Besamt würden die Kühe erst im Frühjahr. Im Herbst legt er einen entsprechenden Vorrat an, erklärt er schmunzelnd, so dass es bis im Frühling reiche. Die Post hole er einmal pro Woche. «Ich geniesse es extrem, so zu leben», erklärt Hirschi. Einsam fühlt er sich trotz der Abgeschiedenheit nicht. Wer irgendwo in einem Vorort von Zürich lebt, ist vermutlich einsamer als wir hier. Hier kommt einfach vorbei, wer auch wirklich hierher will», sagt der Landwirt. Oder Wanderer, die sich gerne mit einem Getränk und einer einfachen Speise stärken.
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Die Stächelegg bietet eine schöne Aussicht und vor allem im Winter viel Abgeschiedenheit. Landwirt Christian Hirschi gefällt das. (Bild Roland Lanz)
Die Schneeschuhe an und los
An jenem Freitagabend meldete sich Christian Hirschi bei der Tierarztpraxis am Bahnhof AG in Langnau i.E. «Wir haben einen Telefondienst, die Bauern rufen dorthin an. Ihr Anliegen wird an den diensthabenden Tierarzt weitergeleitet», erklärt Susanne Aeschbacher, die an jenem Abend ausrückte. Bauer Hirschi hatte bereits beim ersten Kontakt mit der Praxis mitgeteilt, dass es unmöglich sei, ohne Schneeschuhe und Licht zu ihm auf die Stächelegg zu gelangen. «Ich habe selber Schneeschuhe. Zusammen mit meinem Mann habe ich mich sofort auf den Weg gemacht», erzählt Susanne Aeschbacher. «Bis zur ‹Trimmle› konnten wir fahren, bis dort hatte der Schneepflug den Weg freigeräumt», erinnert sie sich. Doch dann war Ende. Ab hier mussten sie zu Fuss weiter.
«Ich realisierte, wie gefährlich der Weg ist.»
Susanne Aeschbacher, Dr. med. vet, in der Tierarztpraxis am Bahnhof in Langnau i. E.
Auf der rund halbstündigen Fahrt bis zur Trimmle hatte die Tierärztin den Landwirt telefonisch kontaktiert. Sie wollte wissen, was sie dort erwarten wird, wie der Zustand der Kuh ist, und was ihr Problem sein könnte. Neben der Schwierigkeit, dass die Kuh nicht aufstand und auch nicht aufhörte zu pressen, hatte der Bauer auch ihren nach wie vor sehr grossen Bauch beobachtet. Das war in etwa das, was die Tierärztin von ihrer Patientin wusste, als sie aus dem Auto stieg.
Kein Weg sichtbar
Ein Weg oder Spuren waren an jenem Abend keine mehr sichtbar. Die Schneeverwehungen hatten ihres dazu beigetragen. «Ich habe überlegt, was erwartet mich dort, was muss ich in meinen Rucksack einpacken?», erinnert sich Susanne Aeschbacher. Der Aufstieg ohne Sicht durch den tiefen Schnee war sehr anstrengend. Die Lage des Hofs ist der Tierärztin von anderen Besuchen bekannt, aber in jener Nacht war sie auf das Gefühl angewiesen, in welcher Richtung in etwa der Stall von Hirschi liegen könnte. «Mein Mann und ich liefen nach Gefühl», erzählt Aeschbacher. Wie lange der Aufstieg gedauert hatte, weiss die Tierärztin nicht mehr ganz genau. Ihre Gedanken kreisten um die Kuh und um deren Gesundheitszustand.
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Es war kein Weg sichtbar, die Tierärztin und ihr Mann gingen ihrem Gefühl folgend vorwärts. Diese Bild entstand auf dem Rückweg ins Tal. (Bild Susanne Aeschbacher)
Ein akuter Kalzium-Mangel
Das Gefühl brachte die beiden schliesslich an ihr Ziel. Und die Medikamente im Gepäck der Grosstierärztin waren hilfreich. Der grosse Bauch kam von einer Blähung. Der Zustand der Kuh sah nach einem akuten Kalzium-Mangel aus, den die Tierärztin mit einer Kalzium-Infusion relativ rasch verbessern konnte. Die Gabe einer Epiduralanästhesie (Spritze in den Rücken) beendete schliesslich das Drücken. Ein zusätzliches Medikament zur Unterstützung des Stoffwechsels und ein Analgetikum (Schmerzmittel) brachten die ältere Dame dann wieder auf die Beine. «Auf die Therapie hat sie wunderbar reagiert», erzählt Susanne Aeschbacher. Nach einer guten halben Stunde war alles geschafft. Mit einem Glas Honig im Gepäck und einer Stärkung nach den Strapazen des Aufstiegs ging es für die Tierärztin und ihren Mann wieder nach draussen in die dunkle Nacht. Der Heimweg war noch intensiver als der Aufstieg. «Ich realisierte, wie gefährlich der Weg ist», erinnert sich Aeschbacher. «Ich war beim Aufstieg so beschäftigt mit dem, was mich da erwarten wird, dass ich nicht wahrnahm, was rund um mich herum passierte.»
Der Besuch von Susanne Aeschbacher bei Hirschis blieb nicht der einzige, den die Grosstierärzte aus Langnau in diesem Monat leisteten. Bereits tags darauf war eines der beiden Zwillinge nicht fit und hatte nicht getrunken. Auch dieser Besuch musste zu Fuss absolviert werden. Zu guter Letzt konnte dann auch noch einer der Geschäftsleiter der grossen Praxis ausrücken. Roland Lanz wurde zu einer Frühgeburt bei einer Ziege gerufen, bei der sich der Muttermund nicht öffnete und die Geburt nicht vorwärtsging. Auch er nahm seinen Weg auf die Stächelegg mit Schneeschuhen in Angriff und konnte dabei ein wunderbares Panorama erleben.
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Dieses Gitzi kam auf der Stächelegg zu früh auf die Welt. Das kleine Tier und seine Mutter mussten von einem zu Fuss anrückenden Tierarzt versorgt werden. (Video Roland Lanz)
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Beim Einsatz zur Behandlung einer Frühgeburt wurde Tierarzt Roland Lanz mit einem wunderschönen Panorama belohnt. (Bilder Roland Lanz)
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Die Leidenschaft hilft
Um solche Strapazen auf sich zu nehmen, braucht es eine berufliche Motivation. «Die Leidenschaft für die Tiere und die Möglichkeit, in einem wunderschönen Gebiet zu arbeiten», sagt Susanne Aeschbacher auf die Frage, worin denn genau ihre Motivation bestehe. «Wir haben sehr viele nette Kunden. Es ist kein Tag, wie der andere. Es ist immer anders. Das ist auch das Spannende daran», sagt sie. Schwierig sei es, mit Enttäuschungen umzugehen, wenn einem Tier nicht mehr geholfen werden kann. «Enttäuschungen gehören zum Beruf», sagt die Tierärztin und schweigt einen Moment. «Es ist sehr wichtig, dass man es dann im Team bespricht. Und wir hier in unserem grossen Team haben da bedeutende Vorteile. Es ist immer jemand da, mit dem man reden kann», schliesst Susanne Aeschbacher.
Weitere Informationen zur Praxis und dem Tierärzte-Team: www.vets-langnau.ch