Der Kanton Graubünden hat sich zum Ziel gesetzt, der erste Kanton in der Schweiz zu sein, in dem die Konsumenten beim Kauf von Bündner Lebensmitteln die Gewissheit haben, das diese klimaneutral produziert worden sind. Unter dem Titel «Klimaneutrale Landwirtschaft Graubünden» wurde letzten Herbst ein entsprechendes Projekt lanciert. Daran beteiligt sind 50 Pilotbetriebe.
Kurs mit internationalen Bodenexperten
Anfang Juni fand für die Landwirte ein Bodenkurs statt. Schwerpunktthema war die Bodenfruchtbarkeit, wie man diese aufbaut und langfristig erhält. Der dreitägige Kurs in der Bündner Arena fand unter der Leitung von Angelika Lübke-Hildebrandt und Urs Hildebrandt statt. Sie sind international bekannte Experten für Bodenqualität und Kompostierung und führen dem Unternehmen U.R.S. Landmanagement einen Forschungsbetrieb in Österreich.
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Es beginnt mit falscher Bodenbewirtschaftung
«Humusmanagement ist das Schlüsselwort, wenn es um Bodenfruchtbarkeit geht», sagt Angelika Lübke-Hildebrandt und erklärte: «Es bedeutet, dass wir mit unseren landwirtschaftlichen Tätigkeiten die Arbeit der Mikroorganismen unterstützen.» Boden, so die Expertin, sei der einzige Organismus, der die Jugend gepachtet hat. «Boden hat die Fähigkeit, sich selber zu verjüngen und sich selber zu organisieren», sagte Lübke-Hildebrandt.
Damit war sie bereits mitten in der Materie, nämlich bei der Frage, ob es möglich ist, Boden in kurzer Zeit wieder gesund zu machen, die sie klar mit Ja beantwortete. Dafür braucht es aber lebenden Humus. «Die meisten landwirtschaftlich genutzten Böden weltweit können sich nicht mehr selber regenerieren, weil ihnen die humusbildenden Organismen fehlen», führte sie aus. Zu den Ursachen zählt sie:
- Naturereignisse: z. B. Vulkanausbrüche, grossflächige Überschwemmungen.
- Unwissentliche Bodenzerstörung: Schwarzbrache, minimale Bodenbearbeitung und falsch praktiziertes Mulchen sowie Flächenkompostierung. Diese Bearbeitungsmethoden resp. die fehlende Bearbeitung führen zu Sauerstoffmangel im Boden. Die aeroben Mikroorganismen nehmen immer stärker ab, die aneoroben (sauerstoffarmen) nehmen zu.
- Wissentliche Bodenzerstörung: Schwere Maschinen, Pflanzenschutzmittel und Kunstdünger sowie Mist und Gülle schädigen die aeroben Organismen.
Die in Lübke-Hildebrandts Augen falsche Bewirtschaftung der Böden führt zu einem Ungleichgewicht im Boden. Es kommt zu Verdichtungen in den unteren Bodenschichten, die Pflanze kann nicht mehr tief wurzeln. Der Kohlenstoffkreislauf ist unterbrochen, die Böden sind nicht mehr in der Lage, CO₂ zu speichern. Ein Teufelskreis beginnt.
Am besten auf Gülle verzichten
Angelika Lübke-Hildebrandt wies darauf hin, dass Mist und Gülle nicht ideal für die Bodenorganismen sind. «Gülle überzieht aufgrund ihrer flüssigen Konsistenz den Humuskrümel mit einer anaeroben Schicht. Das verursacht ein Absterben der sauerstoffbedürftigen Bodenlebewesen, die in einem gesunden Boden an der Krümeloberfläche leben», erklärte sie vereinfacht den mikrobiologischen Prozess.
Geht es nach Lübke-Hildebrandt, müssen wir in der Landwirtschaft wegkommen von der Gülle. In einem gesunden Bodensystem würden die Pflanzen aus dem Humusdepot durch die Hilfe der Mikroorganismen ernährt, da brauche es keine Gülle. Sie sei sich bewusst, dass dies heute noch unvorstellbar ist. «Aber je mehr der Fokus der Bauernschaft auf der Kraft der Bodenorganismen liegt und die Landwirtin wirklich nach den Bedürfnissen der aeroben Bodenorganismen wirtschaftet, umso deutlicher wird, dass Gülle immer nur ein teurer Kompromiss für die Landwirtschaft sein kann.»
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Da die Systemumstellung viel Zeit in Anspruch nehmen wird, rät sie, als brauchbaren Zwischenschritt die Gülle milchsauer zusilieren, sie anschliessend zu separieren und das Fugat zu kompostieren. Das werde auf vielen Betrieben in der Schweiz bereits mit grossem Erfolg praktiziert. «Nur gemeinsam mit den Bauern und Technikerinnen können wir bodenfreundliche Gesamtkonzepte entwickeln», betonte sie.
Maximale Aktivierung auf Versuchsfläche
Aber wie sieht Humusmangagement in der Praxis aus? Auch dazu gab Angelika Lübke-Hildebrandt Ratschläge: «Zuerst müsst ihr eine Fläche festlegen, die ihr drei Jahre ganz aus der Fruchtfolge rausnehmt. Das kann ein Wegstreifen, eine kleine Fläche oder der ganze Betrieb sein.» Auf dieser Fläche wird eine Gründüngungsmischung gesät. Lübke-Hildebrandt empfiehlt für eine maximale Aktivierung die Zugabe von Komposttee sowie Humusstarter. Die Gründüngung lässt man in den drei Jahren jeweils so hoch aufwachsen, dass sie nicht lagert. Das geschnittene Gras kann als Futter oder für die Kompostierung genutzt werden.
Nach drei Jahren wird die Parzelle wieder in die Fruchtfolge integriert. «Sie werden staunen: Die Unterschiede im Pflanzenwachstum im Vergleich zu den normal bewirtschafteten Parzellen sind enorm», berichtete die Referentin aus ihrer langjährigen Erfahrung. Gleichzeitig wies sie darauf hin, dass für den Erfolg die korrekte Präparation und Einarbeitung der Grünmasse nach der dreijährigen Grünbrache entscheidend ist. «Werden da Fehler gemacht, kann die Bodensituation sogar verschlechtert werden.»
Es braucht die richtigen Maschinen
Ein sehr wichtiger Punkt in der humusaufbauenden Landwirtschaft ist die Verwendung der richtigen Maschinen und Gerätschaften. Dazu machte Urs Hildebrandt einen kurzen Exkurs. Ein rotierender Spatenpflug sei zum Beispiel eine gute Anschaffung. Er durchmischt die obere Bodenschicht schonend und verteilt die Grünmasse gleichmässig im Boden. Gleichzeitig kann Kompostextrakt (ein wässriger Auszug aus hochwertigstem Kompost) darüber gesprüht und direkt mit dem Spatenpflug eingearbeitet werden. Hildebrandt sagte: «Wichtig ist, vor der Bearbeitung ein Bodenprofil zu graben und dieses zu analysieren, um zu sehen, wo mein Boden steht.»
So funktioniert die Chromatorgraphie
Bei der Chromatorgraphie nach Pfeiffer-Lübke wird eine schwach alkalische Lösung aus dem Boden auf eine Rundfilterscheibe aufgetragen, die zuvor mit Silbernitratlösung behandelt wurde. Die Muster auf dem Filterpapier zeigen die molekularen Zusammensetzungen, die im Boden wirken. Damit erhält man einen direkten Einblick in die Lebensprozesse von Böden, Komposten und Pflanzen. Zusammen mit der Ermittlung des Humus-wertes lassen sich einfach und günstig Massnahmen für den Bodenaufbau eruieren. Unterstützung dafür bietet in der Schweiz die Firma Bionika, wo Urs Hildebrandt Mitinhaber ist.
Diese Analyse kann der Landwirt auch selber, ohne Beratungsbüro, machen. Hildebrandt erlebt es oft, dass der Boden mit Maschinen aufgeschlossen werden muss, weil er so verdichtet ist. Da die Gerätschaften für Kompostierung und Bodenbearbeitung teuer sind, empfiehlt er, diese in einer Betriebsgemeinschaft oder im Maschinenring anzuschaffen.
Konsument soll mitzahlen
Humusaufbau sei eine Investition, die sich lohnt – egal ob in konventioneller Landwirtschaft oder im Biolandbau –, lautete die Message der beiden Referenten. «Das, was wir in den letzten Jahrhunderten von unseren Böden genommen haben, können wir jetzt wieder aufbauen», gibt sich Angelika Lübke-Hildebrandt zuversichtlich. Sie ist sich aber sehr wohl bewusst, dass es für ein Umdenken in den Köpfen Zeit braucht. Um diese Investition stemmen zu können, müssten auch die Konsument(innen) involviert werden. Klimaschutz wird in Zukunft in die Preise einfliessen müssen, ist das Ehepaar überzeugt. Und genau da setzt das Projekt «Klimaneutrale Landwirtschaft Graubünden» an.
Graubündens Landwirtschaft wird zum Freiluft-Labor
Das Projekt «Klimaneutrale Landwirtschaft Graubünden» ist im Januar 2021 gestartet. Die Laufzeit beträgt zehn Jahre, der Kanton Graubünden unterstützt es mit 6,4 Millionen Franken. Für die 50 Pilotbetriebe gibt es zwei Förderbereiche:
- Förderbereich A (Pflicht): Gefördert und entschädigt werden keine Einzelmassnahmen, sondern der Zeitaufwand für den Wissensaufbau. Während der Pilotphase sind 27 Arbeitstage als Pflichtprogramm vorgesehen. Sie werden für die Berechnung einer Anfangs- und Schlussbilanzierung (Energieverbrauch und THG-Emissionen) sowie für die Aus- und Weiterbildung eingesetzt. Die Entschädigung beträgt 250 Franken pro Arbeitstag, der maximale Förderbeitrag pro Betrieb über die fünf Jahre liegt bei 6750 Franken. «Förderbereich A» müssen alle Betriebe erfüllen.
- Förderbereich B (Kür): Mit innovativen, noch wenig erforschten einzel- und überbetriebliche Projekten sollen die Treibhaus-gase (THG) reduziert werden.Die finanzielle Unterstützung orientiert sich an den THG-Reduktionsleistungen. Pro eingesparte Tonne THG wird ein Beitrag von 120 Franken gezahlt. Die Projekte müssen für mindestens fünf Umsetzungsjahre geplant und realisiert werden. Den Betrieben stehen vier Millionen Franken an direkten Fördergeldern zur Umsetzung zur Verfügung. «Förderprogramm B» ist freiwillig.
Rund um den Förderbereich B fand am 10. Juni eine Informationsveranstaltung statt. 15 Vertreterinnen aus Forschung und Praxis präsentierten den Pilotbetrieben neue Ideen von Agroforstsystemen über CO₂ -neutrale Trocknungsanlagen, emissionsmindernde Massnahmen bei Wiederkäuern bis hin zur Insektenfütterung für Geflügel.
Im Anschluss konnten sich die Pilotbetriebe mit den Experten austauschen und Fachwissen für ihre eigenen Projekte abholen. Diese gehen ab 2022 in die Umsetzungsphase. Fachlichen Support erhalten die Betriebe in der Umsetzung durch die Fachgruppe Klima. Diese setzt sich aus Expertinnen verschiedener Hochschulen, Forschungsinstitutionen und weiteren Organisationen aus der ganzen Schweiz zusammen. In diesem gross angelegten Experiment mit unterschiedlichsten Projekten wird die Bündner Landwirtschaft zum «Freiluft-Labor».