Meine Mutter, Greti Fankhauser, kann sich noch gut an die Maul- und Klauenseuche erinnern. Vor allem 1965 wütete der Seuchenzug in grossem Masse in der Schweiz. «In unserem Dorf Frieswil traf es zwar keinen Betrieb, aber uns wurde verboten, in fremde Kuhställe zu gehen», sagt sie. Sogar die Hofhunde mussten an die Kette, keiner durfte mehr frei herumlaufen. «Auch unser Bäri wurde angebunden und wurde deswegen richtig böse», weiss meine Mutter noch.
Eine Tragödie
Weniger Glück mit der Maul- und Klauenseuche hatte die Familie Christen in Belp. Die Gotte meiner Mutter, Greti Christen, hat die Tragödie nachträglich in einem Artikel festgehalten. So war der 23. Dezember 1965 ein schwarzer Tag für die Bauernfamilie Christen: Die Seuche war in ihrem Stall ausgebrochen. Am Heiligabend wurden dann alle Tiere vom Seuchenfahrzeug abgeholt und getötet. Während der Fahrt kalbte sogar noch die Kuh «Junker». Wie die Seuche in Christens Stall kam, konnte nie ganz geklärt werden. Man weiss nur, dass ihr Sohn Hansli, damals 13-jährig, in der Schule neben einem anderen Bauernbub aus dem Belpberg sass. Bei ihnen zu Hause sei die Maul- und Klauenseuche als Erstes ausgebrochen. Ob Hansli dann das Virus mit nach Hause nahm und so die Kühe ansteckte, kann nur vermutet werden.
«Jetzt sind wir keine Bauersleute mehr»
1965 war im Stall der Familie Christen in Belp die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen. Greti Christen schrieb darauf im «Gelben Heft» in einer ergreifende Geschichte die Geschehnisse auf ihrem Betrieb nieder:
Betreten verboten
Soeben habe ich die Latte weggenommen, welche den Zutritt zu unserem Hof versperrte. Ebenso das hässliche Plakat, das die Polizei an den Baumstamm genagelt hatte: «Wegen Maul- und Klauenseuche Betreten strengsten untersagt». Überall riecht es nach Desinfektionsmitteln. Wir brauchten einige hundert Liter kochendes Wasser, 100 kg Soda, ein Fass Chlor und eine Kiste Natronflocken, um unser Gehöft zu reinigen. Ställe, Tennen, Terrassen und Hofplätze sind jetzt wieder blitzsauber. Heute Morgen wurden noch die Wohnung und die Kleider ausgeräuchert – nun sollte sich niemand mehr von uns fürchten.
Ein Würgen im Hals
Mit zerschlagenem Gemüt sitze ich hinter dem Stubentisch. Immer noch würgen mich die Dämpfe vom Räuchern im Hals. Ich gebe mir alle Mühe, meine Gedanken in Ordnung zu bringen und denke zurück, wie das alles so plötzlich über uns hereingebrochen ist. Endlich, nach langem Warten, Bangen und Hoffen wurden unsere Tiere am 21. Dezember schutzgeimpft. Wir waren alle froh und erleichtert: Mein Mann sagte voller Hoffnung: «So, die zehn Tage werden wir jetzt noch verwehren können!» Haben wir doch schon seit langer Zeit alle erdenklichen Schutzmassnahmen getroffen – und zwei Tage später hatten wir die Seuche im Stall. Was das heisst, kann nur ermessen, wer es selbst erlebt hat. Mit grosser Anteilnahme haben wir täglich den Seuchenzug verfolgt und immer gesagt: «Das ist traurig für die Bauern, die all ihr Tiere hergeben müssen.» Aber jetzt weiss ich, dass «traurig» kein Wort ist für den Schmerz. Im hinteren Stall hatten wir die Seuche. Fast explosionsartig hat sie ein Tier um das andere erfasst. Noch war ein schwacher Funken Hoffnung, es könnte eine Reaktion vom Impfen sein, aber es war die Seuche. Am anderen Morgen war sie auch im vorderen Stall. Nun ging es wie am Schnürchen. Der Schätzer kam. Mitfühlend drückte er uns die Hand. Vater holte das «Mäppli» mit der Aufschrift «Viehzucht» aus dem Schublädli. Nun ging es von Tier zu Tier, von Stall zu Stall.
Es kamen die Seuchenautos
Bald kam schon das erste schreckliche «Ungeheuer», das Seuchenauto, angefahren. Unser Sohn öffnete die Stalltüren und Stück für Stück wurde hinausgeführt und den steilen Laufsteg in die Seuchenautos gezerrt. Gut, dass es unser Sohn machte, Vater hätte das allein nicht übers Herz gebracht. Da kamen sie, eine um die andere: die «Freude», der «Wander», die «Monika», das gute «Nelli», die schöne «Sennerin», und so weiter … Einige machten einen müden Eindruck, andere machten übermütige Sprünge. Aber alle mussten den gleichen Weg gehen. «Halt, fertig», befahl der Verlader beim ersten Auto, «nur noch ein kleines Stück.» «Also, Res, hol noch das Primeli», würgte de Vater mit erstickter Stimme hervor. So ging es weiter, bis die Ställe leer und die Autos voll waren. Die zwei kleine Kälbli, welche noch nicht stehen konnten, hat der Tierarzt liebevoll auf die Arme genommen und sie in das Auto getragen.
Wir weinten alle
Sechs Schweine und 27 Stück Rindvieh wurden weggefahren; aber in Bern waren es bestimmt 28. Denn die Kuh «Junker» war gerade am Kalben; aber man liess ihr keine Zeit. Seuchenautos und ihre Chauffeure sind gefragt, man erwartet sie schon auf einem anderen Hof. Am Abend hockten wir um den Stubentisch. Es war Heiliger Abend. Der Vater reichte die Liste mit den Namen und Schatzungen unserer Kühe. Das ist alles, was uns von unserem schönen Viehbestand geblieben ist. Wir weinten alle. Jetzt sind wir keine Bauersleute mehr; wir haben nur noch ein altes Ross, das «rüchelet» und «längi Zyt» hat nach seinem Kameraden, der gerade in der Kuranstalt weilt; und ich habe ein Milchkesseli gekauft und hole jetzt die Milch in der Käserei.
Werner Locher erzählt
Auch Werner Locher aus Bonstetten ZH ist die Maul- und Klauenseuche noch in bester Erinnerung. Im Gemeindemagazin «Kobo» hat er dazumal einen Beitrag geschrieben, den er uns zuschickte: «Es war in der Auffahrtswoche, am Montag, den 21. Mai 1963 am Vormittag, als der Bauer Jakob Hedinger bei einer Kuh feststellen musste, dass sie nicht richtig fressen wollte. Nach einem kurzen Gespräch mit seinem Nachbarn verständigte er den Tierarzt. Dieser hatte sehr schnell den schwerwiegenden Verdacht: Die Kuh könnte die Seuche haben! Noch am selben Tag wurde der Bezirkstierarzt benachrichtigt und dieser ordnete umgehend die Schlachtung sämtlicher Rinder und Kühe an. Der Hof ‹ob der Säge› wurde zum Sperrgebiet erklärt. Das ganze Hofareal musste sofort mit Barrikaden abgeriegelt werden. Überall hängte man Warnschilder auf. Katzen wurden eingesperrt. Niemand durfte den Hof verlassen oder betreten. Für Hedingers zwei Kinder bedeutete dies: keine Schule, eingesperrt Zuhause. Nicht ganz einfach. Wer die beiden Buben kannte, wusste, dass dies sehr schwierig war. Die dringlichen Feldarbeiten, wie etwa das Vereinzeln der Runkelrüben, wurde auf Hedingers Acker von Kollegen verrichtet.»
Wie aber kam die Seuche?
Werner Locher schreibt weiter: «Im Winter 1962/ 63 waren in der Schweiz an verschiedenen Orten Fälle von Maul- und Klauenseuche aufgetreten. Am heftigsten wütete die Seuche im Luzernischen und im Aargau. Schliesslich erreichte sie im Mai auch unseren Bezirk. Am 10. Mai, einem Freitagnachmittag, wurde auf einem Hof in Affoltern am Albis ZH der Ausbruch in einem Kuhstall festgestellt. Mehrere Kühe waren teilweise schon sehr schwer erkrankt, da der betroffene Bauer nicht schon beim ersten Anzeichen den Tierarzt beigezogen hatte. So war es denn nur logisch, dass in den nächsten Tagen auf weiteren Höfen in der Umgebung die Krankheit festgestellt wurde. In Affoltern weilte auch eine Militäreinheit. Diese absolvierte ihren Dienst mit verschiedenen Truppenübungen in der Region. Eine solche Übung fand am Freitag, 11. Mai, auch in Bonstetten statt. Für die Soldaten war es eine willkommene Gelegenheit, sich in der Scheune von Jakob Hedinger auszuruhen. Der für die Abendfütterung bereitgemachte Heuhaufen bot sich geradezu als idealer Ruheplatz an. Das Heu wurde noch am gleichen Abend an die Kühe verfüttert. Zehn Tage später brach die Seuche auch in diesem Stall aus. Am Dienstag, den 22. Mai, wurde unter Aufsicht des Bezirkstierarztes und eines Beamten der Veterinärpolizei der gesamte Rindviehbestand von Hedingers verladen. Genauer gesagt, der Bauer musste sie eigenhändig in den Containerwagen führen, da es selbst den Chauffeuren untersagt war, die Tiere zu berühren. Um eine weitere Ausbreitung im Dorf zu verhindern, wurden am nächsten Tag alle Kühe und Rinder in der Gemeinde geimpft. Auf den Zufahrten zu allen Höfen mussten Sägemehlteppiche angelegt werden, welche man mit Natronlauge übergoss. So wurden die Räder und Schuhe der Besucher desinfiziert. Die Milch wurde fortan abgeholt, damit sich die Bauern in der Sammelstelle nicht noch gegenseitig die Seuche weiterreichten. Diese Massnahmen galten für drei Wochen. Dann endlich sollte der Impfschutz wirken.»
Elf neue Kühe
Auf die Frage, wie hoch denn die Kühe abgeschätzt worden waren, meint Jakob Hedinger: «Die Entschädigung für meine 18 Tiere reichte gerade, um elf neue zu kaufen». Die im Kanton Appenzell gekauften Kühe wurden noch dort gegen die Seuche geimpft. Sie konnten aber wegen der Quarantäne erst drei Wochen später geliefert werden. Die Maul- und Klauenseuche ist die weltweit gefährlichste Rinderkrankheit. Sie kann alle Paarhufer befallen. Die Inkubationszeit, also die Zeit von der Ansteckung bis zum Ausbruch, beträgt zwei bis 21 Tage. Die Seuche ist auch eine zwischen Tier und Mensch übertragbare Krankheit. Als Folge der zwei grossen Seuchenzüge in den Sechzigerjahren (1962 /63 und Oktober 1965 bis März 1966), wurden sämtliche Rinder und Kühe in der Schweiz gegen diese Seuche geimpft. Diese alljährliche Impfung wurde aber 1991 wieder abgeschafft. Die Kosten schienen zu hoch im Vergleich zum Nutzen. Zudem wechselte auch die EU zu einer Seuchenstrategie, welche die Impfung ausdrücklich untersagte.