Wer das Gemüse isst, steht auch selbst auf dem Feld. Das ist die Idee der solidarischen Landwirtschaft (Solawi). Wie funktioniert eine Solawi und wie ist es, in einer zu mitzuarbeiten? Ein Erfahrungsbericht von den Feldern von Ortoloco.
Vielfarbige Tomaten
Leise raschelt trockenes Gras unter meinen Füssen, die Luft ist feucht-warm und stickig, meine Hände sind von gelbem Blütenstaub bedeckt, die Finger schwarz. Ich schwelge in einer Vielfalt von Tomaten. Im Folientunnel der Solawi Ortoloco in Dietikon ZH gedeihen 18 verschiedene Tomatensorten: gelbe, grüne, rote, violette, gestreifte und zweifarbige. Der Boden ist mit Mulch bedeckt, wie auch in den anderen drei Tunneln, wo Gurken neben Peperoni und Basilikum, Melonen neben Auberginen und Setzlinge aus eigener Anzucht wachsen.
150 Kilo Tomaten kommen an diesem Tag zusammen. Neben den vollen Kisten stapeln sich bereits Auberginen, weisslich grüne, schwarze und gestreifte. In der Nähe parkt eines der Lastenvelos, mit denen hier alles Erntegut vom Feld in zwei Minuten in den Kühlraum kommt.
Eine gute Are Anbaufläche und rund 500 Mitglieder
Ortoloco war eine der ersten Solawis in der Deutschschweiz. Fünf junge Leute gründeten 2010 diese Genossenschaft, inspiriert von den Ideen von «Neustart Schweiz», die sich mit multifunktionalen Nachbarschaften beschäftigen. Heute versorgt die Solawi etwa 230 Haushalte und damit 500 Genossenschafter das ganze Jahr mit Gemüse. Zweimal wöchentlich werden die rund 20 Depots in der Region beliefert. Wer zwei Anteilsscheine für 250 Franken kauft, verpflichtet sich zu zehn Arbeitseinsätzen pro Jahr und kann sich für ein Gemüse-Abo anmelden. «Die Genossenschafter machen etwa drei Vollzeitstellen aus», schätzt Mitgründerin Ursina Eichenberger. Zusätzlich zu den drei Gärtnern (total 150 Stellenprozenten) und zwei Praktikanten (jeweils 80 Prozent) können so eine gute Hektare Freilandgemüse und 10 Aren gedeckte Fläche biologisch und mit viel Handarbeit bepflanzt und gepflegt werden.
Gemüse ohne Preis
Etwa 60 Gemüsesorten und Kräuter wachsen hier, in Tunneln oder auf 54 Meter langen Feldstreifen. Maschinen kommen selten zum Einsatz. «Beim Wiesenumbruch wird gemulcht, oberflächlich mit einem Einachser gefräst und dann flach gespatet. Wir haben eine Spatenmaschine für den schmalen Obsttraktor des nahen Fondli-Hofs», erklärt Ursina Eichenberger. Über ihre Anteilsscheine und die Kosten für das Gemüseabo finanzieren die Mitglieder der Solawi die Produktion mit allen Risiken. Das Gemüse selbst hat keinen Preis, alles vom Feld wird gleichmässig verteilt.
Der Abpackraum trägt dank der grosszügigen Oberlichter den Kosenamen «Kathedrale». Dort liegen über 200 farbige Abo-Taschen (genäht vom Näherinnen-Kollektiv «Entre Hilos» in Nicaragua) bereit. Die Stimmung im von der Sonne hell erleuchteten Raum ist heiter, man unterhält sich während Gemüse in allen Farben und Formen auf die Taschen verteilt wird. Nebenan kocht ein Mitglied des Gärtner-Teams für die Anwesenden.
Vor- und Nachteile
Zwar hat man mit den Mitgliedern der Genossenschaft viele Arbeitskräfte, diese muss man aber anleiten. Schliesslich sind sie im Allgemeinen landwirtschaftliche Laien. Eine Zusammenstellung gibt Auskunft über die Vor- und Nachteile einer Solawi.
Alle bestimmen mit
Was schlussendlich in die Taschen kommt, darüber stimmt mit dem Anbauplan die Vollversammlung ab. So gab es 2019 erstmals Honigmelonen. Das ist einer der Grundsätze bei Ortoloco und Commons im Allgemeinen (weiterlesen): Man orientiert sich an den Bedürfnissen aller Beteiligten. Das Gehalt der Gärtner wurde deshalb auch höher angesetzt als üblich, damit sie von einem Teilzeit-Lohn leben können. So arbeiten die drei Gärtner als Team, was mehr Konstanz, fachlichen Austausch und sich ergänzende Fähigkeiten ermöglicht. 100-Prozent-Jobs sind nicht förderlich, weder für die Gesundheit noch die Zufriedenheit, ist man sich einig. Zudem haben Ortoloco-Gärtner je nach Jahreszeit Anspruch auf sechs bis 12 Wochen bezahlten Vaterschaftsurlaub.
«Die rund 500 Genossen-schafter machen etwa drei Vollzeitstellen aus.»
Ursina Eichenberger, Mitbegründerin der Solawi Ortoloco.
Die zehnköpfige Betriebsgruppe trifft sich etwa alle zwei Wochen zu einer Sitzung. Sie kümmert sich unentgeltlich um die Administration, legt die Gärtnerlöhne fest und fällt kleinere Entscheidungen. Für grosse und strategische Entscheidungen wird eine Vollversammlung mit allen Genossenschaftern einberufen.
Ehrgeiz auf dem Lauchfeld
Die Wertschätzung für das Gemüse ist spürbar, als eine Gruppe Solawi-Mitglieder nachmittags zum Lauchsetzen kommt. Eine von ihnen legt bleistiftdünnen Lauch zur Seite. Er ist zu schwach zum Pflanzen, aber sie mag ihn nicht kompostieren – lieber nimmt sie ihn mit nach Hause zum Znacht. Es ist heiss und die Sonne brennt. Lauchgeruch liegt in der Luft und wir müssen die Pflänzchen mit feuchtem Heu abdecken, bevor sie in die Erde kommen. «Diese Linie will ich heute fertigkriegen», meint eine Marketing-Fachfrau. Das lange Feld, das es zu bepflanzen gilt, hat ihren Ehrgeiz geweckt.
Arbeitseinsätze selbst auswählen
Meist werden Arbeits-Einsätze als Halbtage geleistet. Eine Überdosis an Gartenarbeit bekommt so niemand. Über ein Online-Tool kann man sich für die von den Gärtnern ausgeschriebenen Einsätze melden, je nach zeitlicher Verfügbarkeit und Vorlieben. Eine Gruppe kümmert sich z. B. um die Beeren der Kooperative, trifft sich zum Pflücken und kocht Konfitüre für alle. Auch beliebt ist das Feierabend-Jäten an lauen Sommerabenden.
«Man muss sich um die Gemüsetasche kümmern und kann nicht ständig auswärts essen gehen. Sie ist wie ein Hund», erklärt ein Kindergärtner, während wir zwischen den Blättern von Buschbohnen nach den gelben Hülsen stöbern. Etwa alle zehn Minuten unterbricht der Lärm eines Flugzeugs seine Erzählungen, in der Ferne quietscht der Rangierbahnhof. Begeistert erzählt er davon, wie er mit seiner Frau Sandwiches mit frischer Pesto, gebratener Aubergine und Peperoni zubereitet hat. «Die nächsten Tage gehen wir weg. Die Gurken kommen mit, als Mitbringsel», meint er lächelnd.
Ein essbarer Lohn
Die Arbeit ist nicht immer angenehm; grosse Gurken baumeln von der Decke eines Folientunnels und schlagen mir an den Kopf. Die Blätter von Zucchetti und Gurken zerkratzen meine Arme und Beine, die Sonne brennt unbarmherzig und der Rücken rebelliert, während das Salatfeld kein Ende nehmen will. Aber am Abend ist das lange Beet mit Lauch in Reih und Glied bepflanzt und die Belohnung für die Mühe ist sehr unmittelbar: Man kann sie essen, im Gegensatz zum Geld.
Betriebsspiegel Ortoloco
Anbaufläche: 1 ha Freiland, 10 Aren gedeckt
Arbeitskräfte: 3 Gärtner, 2 Praktikanten und rund 500 Genossenschafter
Kulturen: etwa 60 verschiedene Gemüse und Kräuter