Es ist nach 22 Uhr, die Strasse ist dunkel und verlassen. Hell leuchtet der Schriftzug eines Detailhändlers. Zielstrebig steuert eine junge Frau den Lastwagenanhänger hinter dem Laden an. Nennen wir sie Clara, ihren richtigen Namen möchte sie nicht veröffentlicht sehen. Denn sie bewegt sich in einer rechtlichen Grauzone.
Clara wartet einen Moment, verschmilzt beinahe mit den Schatten, und schlüpft dann flink unter den schweren Plastiklappen, der den Lastwagenanhänger mit dem Gebäude verbindet. Im Licht der Stirnlampe tauchen aufgetürmte, zu entsorgende Lebensmittel auf: Salat mit braunen Stellen, Brot, Joghurts. Ablaufdatum: heute. Rasch packt Clara sie ein. Dazu Zucchetti, mehrere Pack Rispentomaten, drei Brote, zwei vegane Burger, ein Pack Pilze, zwei Salatköpfe, zwei Mangos, ein Bund Bananen, mehrere Brotaufstriche, drei Liter Buttermilchdrink, Kekse und ein Kilo Trauben.
Clara löscht die Lampe, bewegt sich zur Öffnung des Containers hin, lauscht, späht hinaus. Wartet kurz, springt dann von der Ladefläche und tritt auf die Strasse. Ein Auto rollt heran, Clara öffnet die Beifahrertür, steigt ein und zieht den Sack auf den Schoss.
«Containern» nennt sich das heimliche Fischen von noch verwertbaren Lebensmitteln aus dem Entsorgungsbereich der Detaillisten. «Es ist eine Art Jagd», sagt Clara. «Man weiss nie, was man findet.» Manchmal freut sie sich, manchmal ist sie geschockt. «Einmal sah ich mehrere Poulets. Diese Tiere wurden aufgezogen und getötet, nur um jetzt weggeworfen zu werden, weil niemand sie essen will. So was schmerzt mich.»
Das Aussehen muss stimmen
Aber nicht nur das Ablaufdatum beschert einem Lebensmittel ein Ende im Abfall. Gemüse bleibt in der Auslage, solange es knackig und frisch aussieht. Je nach Detailhändler verbringt es noch einen Tag oder zwei im 50-Prozent-Regal, bevor es endgültig im Abfall landet.
Laut den Detailhändlern seien es unter zwei Prozent Lebensmittel, die sie in der ganzen Schweiz wegwerfen müssten. Clara hat ihre Zweifel. «Wenn ich einen ganzen Abfallcontainer voller Essen sehe, der nur von einem einzigen Tag stammt, kann ich das kaum glauben.» Häufig seien die Mengen überwältigend.
Dabei liesse sich doch auch mit nicht mehr ganz frischen Lebensmittel etwas kochen: Gemüse zum Beispiel anbraten, aus angeschlagenen Früchten Smoothies oder Glace machen. Aus einem trockenen Brot eine feine Bruschetta. Clara verwertet die Esswaren in ihrer Wohngemeinschaft.
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Tomaten erntefrisch zu Sugo verarbeiten – so hat man das ganze Jahr etwas davon.
Containern befindet sich im rechtlichen Graubereich
In der Schweiz ist Containern rechtlich nicht verboten. Allerdings sollte man vermeiden, über einen Zaun zu klettern oder etwas aufzubrechen: das ist Hausfriedensbruch. Wirklich äussern zur rechtlichen Situation tut sich nur einer, und das ist auch schon länger her: der ehemalige Sprecher der Staatsanwaltschaft Basel, Markus Melzl.
Clara hat mit ihm telefoniert, nachdem sie von der Polizei erwischt wurde. «Wenn der Detailhändler die Produkte in die Mülltonne wirft, gibt er damit sein ‹Gewahr›, also seinen Anspruch darauf, auf. Daher ist Containern kein Diebstahl», sagte Markus Melzl. Dennoch wurde Clara angezeigt. Nun droht ihr eine Busse. Vorderhand ist ihr daher die Lust vergangen, noch gutes Gemüse aus Containern zu fischen.
Vom Containern zur Politik
Meret Schneider ist ebenfalls über das Containern ins Thema Food Waste eingestiegen. Mit neunzehn las sie das Buch «Glücklich ohne Geld» von Raphael Fellmer, in dem er unter anderem beschreibt, wie er sich aus der Tonne hinter den Supermärkten ernährt. «Krass», dachte die junge Frau und suchte nach diesen Tonnen hinter den Supermärkten in ihrer eigenen Umgebung.
Sie wurde fündig. «Manchmal gab es säckeweise Orangen, bei denen ich keinen Makel fand. Vielleicht kam einfach eine neue Lieferung und die alten mussten weg.» Sie begann, Interessierte ins Containern einzuführen, nahm sie auf einen Rundgang mit, erklärte ihnen, worauf sie achten mussten. Danach verarbeiteten sie die Beute gemeinsam.
Die erfahrene Containerin schnitt selbstverständlich matschige Stellen beim Gemüse weg und untersuchte die Lebensmittel auf ihre Geniessbarkeit. «Dadurch konnte ich den Leuten die Scheu nehmen. Viele haben Hemmungen, ein abgelaufenes Joghurt nur schon aufzumachen.»
Wegwerfware Lebensmittel
300 Kilo verzehrbare Lebensmittel werden pro Person und Jahr in der Schweiz weggeworfen. Die Hälfte davon im eigenen Haushalt. «Man kauft ein, isst dann spontan bei Freunden und am Ende der Woche sind noch Lebensmittel im Kühlschrank, die man wegwirft, weil man schon wieder eingekauft hat.» Allerdings beziehe sich dieses Verhalten nicht nur auf Essen. «Wir werfen generell viel weg: Wir kaufen Kleider für eine Saison oder brauchen jedes Jahr ein neues Handy. Wir wollen alles möglichst günstig und häufig etwas Neues.»
Dabei verpassen wir einiges: Dass zum Beispiel ältere Äpfel auf der Wähe besser schmecken als die knackig-grünen. «Lebensmittel zu verarbeiten oder Reste für ein neues Essen zu verwerten, ist sehr kreativ», sagt die Ustermerin, die gerne in Magazinen zur Haltbarmachung von Lebensmitteln schmökert. «Es macht Spass, es für sich zu entdecken.»
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Die Zürcher Nationalrätin Meret Schneider stieg übers Containern ins Thema ein.
Meret Schneider war Gemeinderätin und Kantonsrätin, letztes Jahr wurde sie 27-jährig in den Nationalrat gewählt. Sie ist Co-Geschäftsführerin von Sentience Politics, einer Denkfabrik, die sich mit Initiativen und Positionspapieren für die Verminderung von Tierleid einsetzt. Daneben ist sie Kampagnenleiterin für die Massentierhaltungsinitiative.
Das Containern hat sie aufgegeben. Noch immer aber holt sie regelmässig unverkauftes zubereitetes Essen bei Restaurants ab und verteilt es an bedürftige Menschen.
Umdenken während des Lockdowns
Während des Lockdowns im Frühling 2020 kauften viele Menschen nur noch einmal die Woche und zunehmend lokal ein, Hofläden fanden vermehrt Zulauf. «Das verändert etwas», sagt Meret Schneider. «Wenn man die Person kennt, von der man die Kartoffeln bezieht, wirft man sie nicht einfach weg, wenn sie etwas schrumpelig sind.» Wer auf dem Balkon selber Tomaten zieht, der merkt, welche Arbeit und Energie dahintersteckt. Konsumentinnen und Produzenten stärker zu verknüpfen, ist daher ein Lösungsansatz für Meret Schneider. Und höhere Preise. «Lebensmittel in der Schweiz sind viel zu günstig. Teure Dinge wirft man viel weniger rasch weg.»
Anfangen ist einfach: vor dem Einkaufen in den Kühlschrank schauen, was verbraucht werden sollte, sich ein Rezept zurechtlegen, vielleicht nur einmal die Woche einkaufen. Nur zu Aktionen greifen, wenn man das Lebensmittel innert nützlicher Frist verzehren kann.
Kleine Schritte führen zum Ziel
Auch Lotti Baumann engagiert sich gegen Food Waste. In kurzen Videos des Schweizer Bauernverbands stellt sie Tipps vor: einen Einkaufszettel schreiben oder Portionen kochen. Die Bäuerin ist Präsidentin des Aargauer Bäuerinnen- und Landfrauenverbands und Co-Präsidentin des Vereins «Swiss Tavolata – Landfrauen kochen für Sie».
Sorge zu den Lebensmitteln zu tragen sei für sie selbstverständlich. Bei der Arbeit für den Haushaltservice der Aargauer Landfrauen stellt sie allerdings fest: «Für manche Menschen ist Reste essen verpönt, ein Armutszeugnis.» Die Bäuerin sieht das anders. «Ich bin oft erleichtert, wenn es Reste hat: so ist schon halb gekocht.»
«Medien und Werbung suggerieren uns, dass Nahrungsmittel ständig frisch und knackig sein müssen», erklärt Lotti Baumann. In ihrem Hofladen sei die Kundschaft manchmal erstaunt, wenn sie erfahren, dass die Zwetschgen am Morgen nicht noch an den Bäumen gehangen hätten. Denn die Zeit sei vorbei, in der Menschen kistenweise Kartoffeln oder Äpfel auf Vorrat kaufen. Dadurch vergisst man, wie sich Gemüse und Früchte am Lager verändern.
Reste verwerten als Ansporn
Im Hofladen sieht Lotti Baumann, dass Food Waste kein Generationenproblem sei. «Es ist eine Frage der Persönlichkeit und der persönlichen Erfahrung. Was macht es mit mir, Nahrung wegzuwerfen? Ist es mir egal oder ärgere ich mich?» Natürlich helfe es, die Arbeit, Kosten und Energie hinter der Produktion einer Kartoffel oder Tomate zu sehen. Es brauche eine andere Herangehensweise: Es als Ansporn zu sehen, Reste zu verwerten. Das gute Gefühl zu geniessen, wenn einem das gelingt. Ein schlechtes Gewissen zu bekommen und sich zu ärgern, wenn hinten im Kühlschrank etwas liegengeblieben ist.
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Im Hofladen verkauft Lotti Baumann, Bäuerin und Präsidentin des Aargauer Bäuerinnen- und Landfrauenverbands, vor allem saisonale Früchte und Gemüse. Vor Ort gibt sie den Kunden auf Wunsch gerne Tipps zum Einkaufen, Lagern und Verwerten von Lebensmitteln.
«Wir haben einige wichtige Kompetenzen verloren, was Lebensmittel anbelangt», erklärt Lotti Baumann. Dazu gehört das Wissen, ob man ein Nahrungsmittel noch essen kann. Stattdessen glauben wir blind einem Ablaufdatum. «Wir wollen nichts riskieren und verschwenden lieber Nahrung.»
Das gilt auch für Rezepte. Denn oft lassen sich dabei Zutaten austauschen: statt eines speziellen Nussöls nimmt man etwa das Rapsöl, das sowieso in der Küche steht. Nicht zuletzt wissen viele nicht, wie man aus Resten mit wenigen Ergänzungen eine neue Mahlzeit zubereiten kann. Mit der Zeit merke man, welche Lebensmittel im eigenen Haushalt öfters ablaufen oder verderben. So könne man sich Rezepte zurechtlegen, um den Food Waste aufzufangen. Im Haushalt Baumann ist es zum Beispiel die Milch. «Wenn sie etwas älter ist, nutze ich sie statt Wasser für den Brotteig.»
In der Küche kreativ werden
Übrig gebliebenes Brot besprengt Lotti Baumann zum Auffrischen mit Wasser und legt es, je nach Menge, kurz in den Backofen oder den Toaster. Die meisten Reste könne man zudem entweder mit einem Ei-Milch-Guss zu einem Auflauf, zu einer Suppe oder mit Sauce zu einem Salat verarbeiten. «Alles schmeckt doch gut mit Salatsauce, nicht?»
Im Hofladen redet Lotti Baumann immer wieder über Lebensmittel. «Persönliche Gespräche bringen am meisten.» Sicher gibt es Menschen, die sich in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen, wenn sie Reste verwerten oder zweimal dasselbe essen sollen. «Aber es gibt nicht nur unsere Gesundheit und unsere Vorlieben. Es gibt auch die Nahrungsmittelproduktion, die Energieverschwendung, wenn wir Nahrung wegwerfen, die Umweltverschmutzung, die bei der Produktion und Entsorgung entsteht. Wir sind ein Teil des Ganzen und müssen lernen, uns entsprechend zu verhalten.»
Restenlos glücklich
In Schweizer Haushalten landen täglich 320 Gramm meist noch geniessbare Lebensmittel im Müll. Dagegen will die Ökonomische gemeinnützige Gesellschaft Bern ein Zeichen setzen und hat das Kochbuch «Restenlos glücklich» lanciert. Die Rezepte sind nach Hauptlebensmittel wie Brot, Gemüse, Reis oder Früchte sortiert.
Zwischen den Rezepten finden sich Interviews mit Menschen, die sich gegen Food Waste engagieren: zum Beispiel eine Landfrau, ein Getränkehersteller, eine Nationalrätin und ein Koch. Dazu kommen gut aufbereitete Informationshäppchen zum Ausmass von Food Waste in der Schweiz und zum Aufbewahren von Lebensmitteln. Ein schönes Kochbuch mit überraschenden Rezepten, die selbstverständlich nicht nur mit Resten zubereitet werden können.
Da gibt es rustikale Brotstangen für einen Apéro, Brotlasagne oder Reiskuchen zum Hauptgang und Paniermehl-Schokopudding oder Lebkuchen-Tiramisu zum Dessert.
Das Kochbuch ist für 39 Franken erhältlich unter: www.ogg.ch
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Websites für Rezepte mit Resten: