Marcella Sturzenegger öffnet die Türe zum Gemsli, obwohl heute Konditorsonntag ist. Die zwei Damen, die in einem Auto mit Zürcher Kennzeichen vorgefahren sind, haben den weiten Weg extra wegen den Biberli auf sich genommen, sagen sie. Sie hatten Glück, dass die Chefin grad draussen stand, um die Journalistin abzufangen. Das Interview muss verschoben werden, da es in der Familie einen Zwischenfall gab.
Wochen später klappte es dann: Das Interview findet in der Gemsli-Gaststube statt. Die warmen Gipfeli in den Körbchen auf den hellen Holztischen verströmen intensive Butterdüfte. Durch die Glasfront sieht man die hier typischen sanften Hügel und den Alpstein. Marcella Sturzenegger stellt das Babyfon auf den Tisch.
Das Gespräch knüpft beim Biber an. «Unsere Biber sind tatsächlich anders, nicht klebrig und keines der Gewürze sticht hervor», erklärt Marcella Sturzenegger kompakt und wohl nicht zum ersten Mal.
Bewährte Rezepte
Doch was macht es noch aus, dass die Leute seit 1933 im ausserhalb des Dorfes an einer Verbindungsstrasse gelegenen Gemsli einkaufen? «Unsere Stärke sind Pralinen, Torten und Patisserie. Wir arbeiten exakt und fein.» Die Biberspitzen, das Früchtebrot, den Amarettogugelhopf und die Sabajontruffes prämierte der Branchenverband an der «Swiss Bakery Trophy» mit vier Medaillen.
Die Rezepte, verrät die Chefin, stammen noch von früher, aus dem längst geschlossenen Café Spörri, das seinerzeit sogar regelmässig von Gästen ennet des Bodensees besucht worden sei: «Die kamen mit Schiff und Bähnli, um in Teufen Torten zu essen. Patisserie, das gab es noch nicht überall.»
Im Appenzeller Jahrbuch von 2013 steht voller Hochachtung, dass Konditor Peter Spörri Teufen erst einen Namen gegeben habe: «Er war wohl über Jahrzehnte eine der prägend-sten Persönlichkeiten des Appenzellerlandes. Das Café Spörri und seine Konditorei wurden zum Inbegriff appenzellischer Qualität und Gastfreundschaft.»
Und wie wurde das Gemsli zur Hortnerin dieser Rezeptschätze? Schwiegervater Albert Sturzenegger war Chef-Konditor im legendären Café, lange bevor er zusammen mit Frau Rita das Gemsli führte. Beide arbeiten heute noch im Betrieb mit, ebenso wie die Mutter, die wie die junge Chefin Marcella heisst.
Rollentausch
Marcella und Ramon Sturzenegger kauften das Gemsli vor zwei Jahren. Mit dem Sprung in die Selbstständigkeit übernahmen sie auch die Verantwortung für zehn Mitarbeitende. Sie war damals gerade 24 Jahre alt. Er war 31 Jahre alt und Konditor-Confiseur wie der Vater.
Als ausgebildete Detailhandelsfachfrau mit Berufsmatura verfügt Marcella Sturzenegger über fundiertes Verkaufs-Know-how. Nach der Lehre schnupperte sie kurz Bankenluft, bevor sie im Gemsli zu jobben begann – und blieb.
«Ich hatte viele Ideen, das fiel auf», beschreibt sie ihre Anfänge. Begriffe wie Social Media oder Corporate Identity interessierten damals ausser ihr noch niemanden gross. «Also ergab es sich, dass mein Mann und ich die Rollen vor rund zweieinhalb Jahren mit den Schwiegereltern tauschten.» Dass sie nun den Angestellten, die alle älter sind, Anweisungen gibt, sei zuerst zwar gewöhnungsbedürftig gewesen, aber nie ein Problem: «In einem gewachsenen Familienbetrieb weiss man, wie jeder und jede tickt. Das hilft.»
Freie Tage sind selten
Das Babyfon knackt laut, Marcella Sturzenegger steht auf, um Tochter Elina zu holen. Minuten später ist sie zurück, setzt die Kleine in den Hochstuhl, von wo aus sie zufrieden in die Welt staunt. Die Tochter wurde im Mai geboren, glücklicherweise an einem freien Dienstag. «Goofen spüren, wann sie kommen dürfen.»
Ein Kunde tritt ins Restaurant, das an diesem Samstagmorgen schon rege besucht ist, grüsst die Chefin. «Hoi Walter!», erwidert Marcella Sturzenegger. «Bist du heute Gast?», will dieser wissen. «Ja, heute bin ich Gast», scherzt sie. Jedenfalls für die Zeit des Interviews, also etwas mehr als eine Stunde. Sonst ist es ein normaler Tag wie immer, vormittags mit Kinderbetreuung von Elina und nachmittags mit Arbeiten im Laden oder im Büro.
An den letzten freien Tag, einen, an dem die junge Familie sogar zum Seealpsee wandern konnte, kann sie sich nur schwer erinnern: «Das war vor Monaten.» Zum Jahresanfang gab es immerhin drei freie Tage. Das heisst: Die Hälfte wirklich frei, die andere ging für die Arbeitsvorbereitung drauf: «Regelmässige Freizeit ist für uns die Ausnahme, für andere ist das normal.»
Kindheit auf dem Bauernhof
Doch Marcella Sturzenegger kennt es nicht anders. Von klein auf muss-te sie den Eltern auf dem elterlichen Bauernhof im Nachbardorf zur Hand gehen. «Wir wurden eher streng erzogen. Auf dem Hof und im Haushalt mitzuhelfen, lernten wir von klein auf», erzählt sie. Ihre Art, Verantwortung zu übernehmen, zeigte sich früh. Einmal, so erinnert sie sich, sei sie mit Beni, einem ihrer zwei jüngeren Brüder, alleine zu Hause gewesen. Als es zu gewittern anfing, ängstigte sie sich so sehr, dass sie ihn in einen Bäbeliwagen packte und mit ihm zu den Eltern auf den benachbarten Bauernhof lief.
Später, in der Gugge, wurde sie rasch einmal Präsidentin, sie organisierte Grümpel-Turniere, kreierte Homepages. Heute habe sie ein schlechtes Gewissen, dass sie der Musikgesellschaft Stein, dem einzigen Hobby, nur noch als Uniformverwalterin dienen könne. Neben den «Ämtlis» als Vorstandsmitglied im Gewerbeverein, als Referentin in der Richemont-Fachschule in Luzern und als Prüfungsexpertin für Lehrabschlussprüfungen finde sie keine Zeit für noch mehr.
Früh eingestiegen
«Ein Lachen mit Verantwortung», titelte jüngst die «Tüüfner Poscht». Eine Sechsundzwanzigjährige mit Ehemann, Kind, einem eigenem Betrieb und einem Haus, das ist wahrlich speziell für die Generation Y, den Millennials, zu der auch Marcella Sturzenegger zählt.
Die Generation Y macht heute einen Viertel der berufstätigen Bevölkerung aus. Eine weltweite Studie des Personalvermittlers Manpower zeigte auf, dass nur 16 Prozent der Millennials Chef oder Chefin sein möchten. Prioritäten seien vielmehr tolle Arbeitskollegen, Kompetenzen weiterentwickeln zu können und sich zu verwirklichen.
«Viele in meinem Alter sind erst jetzt mit dem Studium fertig. Sie wohnen noch zu Hause, stehen am Anfang von Allem», stellt auch Marcella Sturzenegger fest. Die Ansichten und Einstellungen seien schon anders.
Das sehe sie auch bei ihrem 21-jährigen Bruder Simon. Doch sei sie dankbar, wie es gekommen sei, halt alles früh. Das hat auch Vorteile. Vielleicht ergibt sich zu einem späteren Zeitpunkt noch die Möglichkeit, einen anderen Traum zu verwirklichen: als Lehrerin in einer Gewerbeschule zu arbeiten.
Weitere Informationen:
www.gemsli-teufen.ch