Ich bin, glaube ich, einfach zu bequem. Auf jeden Fall habe ich nie wirklich verstanden, was Einkauftouristinnen und Touristen dazu veranlasst, sich am Samstagmorgen freiwillig in den Stau zu stellen.  Vielleicht liegt es daran, dass ich zu weit weg von einer Grenze wohne. Aber auch während meiner acht Jahre im Kanton Zürich war ich nur einmal im deutschen Konstanz. Zum Stadtbummel und Kafffee-Trinken, ein Einkaufszentrum habe ich nicht von innen gesehen.

Hochpreisinsel Schweiz

Laut einem Bericht des Bundesrats aus dem vergangenen Jahr ist der Hauptgrund für den Einkaufstourismus die Preisdifferenz von rund 60 Prozent im Vergleich zur EU. Viele Waren sind in der Schweiz grundsätzlich teurer. Die Ursachen dafür seien vielfältig: Löhne, Mieten, Regulierungen, Handelshemmnisse, Grenzschutz im Agrarbereich, teilweise geringe Wettbewerbsintensität usw.

Starker Franken

Massgeblich zur hohen Preisdifferenz hat auch die Aufwertung des Frankens gegenüber dem Euro beigetragen, insbesondere nach der Aufhebung des Mindestkurses Anfang 2015. Lassen sich Schweizer(innen) die viel höhere ausländische Mehrwertsteuer zurückerstatten, werden die Einkäufe noch billiger. Auch die Wertfreigrenze begünstigt den Einkaufstourismus: Personen, die in die Schweiz einreisen oder zurückkehren, können Waren im Wert von 300 Franken steuerfrei einführen, zum privaten Gebrauch oder zum Verschenken.

Medienpräsenz lockt Einkaufwillige

Es gibt laut Bundesrat noch weitere Gründe als nur das Geld: Einerseits begünstige dessen Medienpräsenz den Einkaufstourismus, weil Konsumenten das Bedürfnis bekämen, selbst ins Ausland zu fahren und zu profitieren. Nun kann ich also nur hoffen, mit diesem Artikel keine Einkaufstouristen nach Konstanz zu locken. Auch der Bundesrat hat erkannt, dass Shoppen über die Grenze  vielen Menschen schlicht und einfach Spass macht: «Konsumentinnen und Konsumenten verbinden den Einkauf im Ausland gerne mit einem Ausflug», heisst es im Bericht.

2 Milliarden weniger wegen Corona

Vergangenen Frühling war diesen Ausflügen Coronabedingt ein Riegel geschoben.  Während fast 13 Wochen konnten die Schweizer nicht ennet der Landesgrenze einkaufen. Die Credit Suisse hat geschätzt, dass deswegen im Ausland rund 2 Milliarden Franken weniger ausgegeben worden seien.

Die Berechnungen zum Einkaufverhalten beruhen auf der Analyse von Debitkarten-Transaktionen und der Annahme, dass im Ausland vermehrt mit Kreditkarte und mit Bargeld bezahlt wird. Demnach habe sich der Einkaufstourismus im vergangenen Jahr 2019 auf ungefähr 8 Milliarden Franken belaufen. Während des Corona-Lockdowns habe etwa der Schweizer Lebensmittelhandel insbesondere in den ländlichen Regionen stark profitiert, heisst es weiter.  So seien zwischen März und Juni 2020 die Ausgaben für Food- und Near-Food-Produkte im Vergleich zum Vorjahr in den ländlichen Regionen am stärksten gestiegen. Gerne erinnern wir uns an den Einkaufsboom in den Hofläden zurück.   Insgesamt geht die CS jedoch davon aus, dass sich der Einkaufstourismus in den letzten acht Jahren verstärkt habe.

Weniger Ausfuhrscheine

Es gibt aber auch Indizien dafür, dass die Boomjahre vorbei sein könnten. Gemessen an den grünen Ausfuhrscheinen kühle die Liebe der schweizerischen Shopper seit vier Jahren ab, berichtete im Juni die «Luzerner Zeitung». 2016 wiesen die Zollämter noch rund 13 Prozent mehr Scheine aus. Das Coronavirus dürfte diese Entwicklung noch verstärken.

Eric Scheidegger, Chef-Ökonom des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), sagte im gleichen Artikel: «Einen solchen Konsumrückgang hat es in der Nachkriegszeit noch nie gegeben.» Der Nachfrageschock sei auch Ende 2021 noch nicht ausgestanden. Der Onlinehandel, der durch Corona noch mehr boomt, konkurrenziert den Einkaufstourismus zusätzlich.

Gute Nachrichten vermeldete das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) letztes Jahr: Der Höchstwert des Fleisch-Einkaufstourismus war 2017 mit 3,7 Prozent erreicht worden. Danach ging er zurück.

Bundesrat glaubt nicht an Lösung

Schon länger gegen den Einkaufstourismus vorgehen wollen Parlamentarier(innen). Die Liste der eingereichten Vorstösse ist lang, bislang liessen sich keine Mehrheiten finden. Der Bundesrat glaubt nicht an eine politische Lösung: Der Einkaufstourismus lasse sich nur «sehr bedingt» mit Massnahmen an der Grenze beeinflussen. Nichtsdestotrotz hat der Nationalrat vergangenen Freitag drei Vorstösse angenommen, um den Einkaufstourismus zu bremsen, zwei Standesinitiativen gehen nun wieder an den Ständerat.

Trotz Corona über die Grenze shoppen

Während die Politmühlen mahlen, rollen die Autos weiter über die deutsche Grenze – hohen Corona-Infektionen in der Schweiz zum Trotz. Dank einer 24-Stunden-Sonderregel dürfen Einkaufstouristen beispielsweise weiterhin in Baden-Württemberg einkaufen. Dieser deutsche Entscheid ist schwer zu verstehen. Menschenleben sollten mehr zählen als der schnöde Mammon.