«Ich war von dem grossen Interesse überrascht», sagt David Ruetschi. Der Geschäftsführer der Schweizerischen Vereinigung für einen starken Agrar- und Lebensmittelsektor (Sals) hat mit der Ankündigung eines ganzheitlichen Nachhaltigkeitsindexes offenbar einen Nerv getroffen. «Wir sind in der Begleitgruppe an der Entwicklung der AP 2030 beteiligt und haben uns überlegt, was unser Beitrag zum vorgesehenen Ernährungssystemansatz sein könnte», erklärt Ruetschi die Ausgangslage. Trotzdem schliesst er nicht aus, dass der Index dereinst zum Projekt der Branchen statt des Bundes werden wird.

Gesamtsystem beurteilen

[IMG 2]Eigentlich handelt es sich beim Nachhaltigkeitsindex der Sals nicht um einen Index im Sinne einer einzelnen Zahl. Vielmehr ist es ein umfassendes Indikatorenset mit über 600 Punkten, anhand derer die Nachhaltigkeit des Gesamtsystems von der Produktion über Verarbeitung und Handel bis zu den Konsument(innen) bewertet werden soll. Entwickelt worden ist das Set von Urs Niggli bzw. seinem Institut für Agrarökologie im Auftrag der Sals. Nigglis Studie nennt zwei mögliche Anwendungsgebiete:

Politik: Neuorientierung, in der Einzelmassnahmen weniger wichtig sind und es vermehrt um Ziele und Wirkung geht. Ebendies ist für die AP 2030 vor-gesehen.

Branche: Index als spezifisches Werkzeug, um Bestrebungen von Einzelakteuren zu harmonisieren und deren Umsetzung zu vereinfachen.

«Wir brauchen eine positive Dynamik, was die AP 2030 angeht», ist David Ruetschi überzeugt. Nachhaltigkeit dürfe nicht nur im ökologischen Sinn interpretiert werden, sondern umfasse zwingend auch Wirtschaftliches und Soziales. Der Nachhaltigkeitsindex behandelt diese drei Säulen gleichberechtigt, aber ohne, dass sie sich kompensieren könnten. «Kinderarbeit zum Beispiel kann für das Klima positiv sein, wenn sie einen fossil betriebenen Motor ersetzt», gibt der Sals-Geschäftsführer ein Beispiel, «sozial vertretbar ist Kinderarbeit aber keineswegs.»

Mit dem Index wolle man den Branchen etwas in die Hand geben, um ihre Bemühungen wissenschaftlich fundiert messbar zu machen. «Es kann doch nicht sein, dass nur die Umweltschutzorganisationen vorschreiben, was in einer Branche nachhaltig sein soll», betont David Ruetschi. Schliesslich sei bei den Landwirt(innen) und Akteur(innen) der Wertschöpfungskette viel Wissen vorhanden. Der Index soll in einer solchen Situation helfen, eine gemeinsame Sprache für die Nachhaltigkeit zu finden.

«Es kann doch nicht sein, dass nur die Umweltschutzorganisationen vorschreiben, was in einer Branche nachhaltig sein soll»

David Ruetschi, Sals

«Ungleich motivierender»

Dabei soll der Index am Ende nicht zu einem administrativen Moloch verkommen. «Dank des breiten Indikatorensets würden Leistungen anerkannt und Potenziale aufgezeigt – was ungleich motivierender wäre als der blosse Nachweis ergriffener Massnahmen», erklärt David Ruetschi. Dabei plädiert er für einen Blick aufs grosse Ganze: «Ein einzelner Betrieb hat in gewissen Bereichen schlechtere Voraussetzungen. Es sollte möglich sein, in anderen Dimensionen zu kompensieren oder als Gruppe ein Ziel zu erreichen.»

Noch befindet sich der Index in der Konzeptphase. Viele Akteure wollten sich aber an der Weiterentwicklung beteiligen, freut sich David Ruetschi. Es gilt unter anderem, zu der grossen Anzahl Indikatoren – es sind über 600 – passende Bewertungskriterien zu finden und ein Tool für die Erhebung zu erstellen.

Branchen sind offen

Die Milch- und die Obstbranche fahren mit «Swissmilk Green» und «Nachhaltigkeit Früchte» bereits eigene Nachhaltigkeitsprogramme in Form von Branchenlösungen. Trotzdem zeigen sich beide interessiert am Index der Sals und wollen sich an dessen Weiterentwicklung beteiligen. Der Verein Schweizer Gemüseproduzenten begrüsst den Ansatz ebenso wie Proviande (siehe Kasten unten). Während Coop keine Beteiligung an der weiteren Ausarbeitung plant, ist die Migros nach eigenen Angaben dafür mit den beteiligten Akteuren in Kontakt. Beide Detailhändler sehen den Nachhaltigkeitsindex aber in einer übergeordneten Rolle und wollen ihn voraussichtlich nicht auf ihren Produkten ausloben.

Die Branchen beteiligen sich mehrheitlich

Die Obstbranche hat mit «Nachhaltigkeit Früchte» vor zwei Jahren ein eigenes Branchenprogramm geschaffen, das Schritt für Schritt zu einer national gültigen Lösung über den ganzen Obstbau ausgebaut werde.
«Ein zentraler Punkt ist für uns die Entschädigung für die Nachhaltigkeit seitens Handels», erklärt Chantale Meyer vom Schweizer Obstverband (SOV) auf Anfrage. Schliesslich nähmen die Produzent(innen) teils enorme Mehraufwände auf sich, um nachhaltige Früchte zu produzieren. Ein gemeinsamer Nachhaltigkeitsindex könnte ihrer Meinung nach dazu beitragen, dass alle Akteure entlang der Wertschöpfungskette bis zum Konsumenten vom Gleichen sprechen. «Für den SOV wäre der einheitliche Nachhaltigkeitsindex der noch fehlende Indikator, um die Fortschritte der Nachhaltigkeit besser messbar zu machen», so Meyer weiter. Auf diese Weise erhielte auch der Produzent einen besseren Eindruck von einer erbrachten Leistung. Wichtig sei aber, dass die konkrete Umsetzung der agrarpolitischen Ziele den Branchen überlassen werde.
Der SOV ist mit Verbandsdirektor Jimmy Mariéthoz im Vorstand der Sals vertreten und beteilige sich aktiv an der Entwicklung des Index. «Dies auch, weil wir überzeugt sind, dass gemeinsam koordinierte und wissenschaftlich basierte Indikatoren für die Messung der Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft etwa für die AP 2030 und den Markt von grosser Bedeutung sind», schliesst Chantal Meyer.

Auch die Schweizer Milchproduzenten (SMP) können sich vorstellen, am neuen Indikatorenset mitzuarbeiten – «soweit sich ein Projekt mit breiter Beteiligung der Akteure aufstellen lässt und effizient daran gearbeitet wird», sagt SMP-Präsident Boris Beuret. Er sieht den Bund in einer zentralen Rolle, da Branchen und Bund künftig mit demselben Indikatorenset arbeiten müssten. «Zudem brauchen wir ein gemeinsames Verständnis über Ziel und Zweck, über die Abgrenzung zur Agrar- und Ernährungspolitik sowie zu den einzelnen Branchenbestimmungen und Labels.»
Die Grundidee der Sals mit ihrem Index nehmen die SMP positiv auf. «Als Nutzen für die Milchproduzent(innen) sehen wir die Möglichkeit, die Stärken der Milchprodukte aus Schweizer Milch noch objektiver aufzuzeigen und zu kommunizieren», erläutert SMP-Vizedirektor Pierre-André Pittet. Auch würde es das Indikatorenset erlauben, die nachgelagerten Betriebe ebenso in die Verantwortung zu nehmen und deren Beiträge zur Nachhaltigkeit sichtbarer zu machen. «Ein gutes Indikatorenset darf auch Schwächen aufzeigen und alle beteiligten Gruppen dazu verpflichten, am selben Strick zu ziehen», findet Pittet. Nicht zuletzt teilen die SMP die Hoffnung von Sals-Geschäftsführer David Ruetschi, dass der Index einen konstruktiven Beitrag zur AP 2030 leisten könnte. «Er müsste einfach auch mithelfen, den administrativen Aufwand auf den Betrieben deutlich zu reduzieren», ergänzt Präsident Beuret.
Die «Komplexität des agrarpolitischen Korsetts» sähe Pierre-André Pittet gerne als einen Indikator im Nachhaltigkeitsindex – ebenso wie die Lebensqualität der Menschen in der Milchwirtschaft und das Tierwohl, die bereits im Konzept von Urs Niggli aufgeführt sind. Weiter betont Pittet Stundenlöhne aus der Milchproduktion, die Intensität der Investitionen und den Anteil Eigenkapital als wichtige Indikatoren. «Auch die Konsumenten- und Ernährungsseite darf nicht ausser Acht gelassen werden», fährt er fort. Das Niveau der Bekanntheit der Ernährungspyramide und wie stark sie von Schweizer(innen) berücksichtigt werden, gehört für Pittet daher ebenfalls ins Indikatorenset.

Man begrüsse den Ansatz der Sals, hält Markus Waber vom Verband Schweizer Gemüseproduzenten (VSGP) fest. Bisher sei die Nachhaltigkeit zu stark als ökologisches Konzept ausgelegt, so seine Erklärung. Um Zielkonflikte zu vermeiden und für eine kohärente Politik erachte man es als zentral, dass alle Dimensionen berücksichtigt werden – «insbesondere auch die wirtschaftliche und entlang der ganzen Wertschöpfungskette inklusive Konsumenten», so Waber. Der Verband stehe als Mitglied in engem Austausch mit der Sals und werde diesen auch «konstruktiv weiterführen».

Aus Sicht von Proviande könnte der Nachhaltigkeits-Index der Sals dazu beitragen, dass stufenübergreifend Massnahmen angegangen werden, «denn Nachhaltigkeitsleistungen sollten nicht nur auf Stufe Landwirtschaft erbracht werden», heisst es auf Anfrage. Die Branchenorganisation begrüsst weiter den Ansatz einer gesamtbetrieblichen Betrachtung auf Stufe Landwirtschaft, so dass nicht jeder Betriebszweig für jedes Produkt ein anderes Bewertungstool anwenden müsse. «Im Moment steht für Proviande ein übergeordnetes, koordiniertes Vorgehen im Fokus», sagt Kommunikationsleiter Philippe Haeberli. Es gehe um die Schaffung von Rahmenbedingungen und die Rollenklärung, insbesondere mit dem Bund und dem Bundesamt für Landwirtschaft. Man werde sich bei den weiteren Schritten hin zum fertigen Index engagieren und arbeite ausserdem auf verschiedenen Stufen mit, um Lösungen zur Nachhaltigkeitsberechnung bzw. -bewertung zu finden. «Die Ausrichtung der AP 2030 dar dabei nicht ausser Acht gelassen werden», ergänzt Haeberli, «eine diametrale Entwicklung wäre für die Branche nicht zielführend».

Der Detailhandel gibt sich zurückhaltend

Die Migros will sich auf Anfrage nicht detailliert zum Nachhaltigkeitsindex der Sals äussern. «Da noch viele Fragen offen sind, ist es für eine abschliessende Positionierung unsererseits noch zu früh», schreibt Sprecher Patrick Stöpper. Der Index könne ein Hilfsmittel zur Messung und Verbesserung der Nachhaltigkeit in der ganzen Land- und Ernährungswirtschaft sein, so seine Einschätzung. Die Migros sei für die Weiterentwicklung bzw. Ausarbeitung des Index mit den Beteiligten in Kontakt, ein solcher würde aber kaum auf den Produkten ausgelobt. Stöpper verweist hier auf den M-Check, der bereits Aufschluss über die Nachhaltigkeit eines Produkts geben soll.

Auch auf in Coop-Regalen wird der Index voraussichtlich nicht auftauchen. «Wir weisen einem solchen Index eine übergeordnete Rolle zu und sehen weniger eine konkrete Anwendung bei uns», gibt Sprecher Caspar Frey Auskunft. Coop setze auf den ebenfalls wissenschaftsbasierten Eco-Score sowie etablierte internationale Standards und Schweizer Labels mit klaren und messbaren Mehrwerten. Verwendung sähe für den Index sähe Coop in der Definition gemeinsamer Nachhaltigkeitsindikatoren für die AP 30+, er sei eine gute Basis für weitere Diskussionen in den Branchen und der Politik. «In welcher Form und in welchen Bereichen er eingeführt werden kann und soll, wird sich in den nächsten Monaten zeigen», ergänzt Frey. Eine Mitarbeit von Coop am Index sei derzeit nicht vorgesehen.