Mutterkorn gilt als eine der ältesten Getreidekrankheiten, die zu Halluzinationen, Atem- und Herzstillstand oder dem Absterben von Gliedmassen führen kann. Kürzlich ist die EU zu dem Schluss gekommen, dass die entsprechenden Höchstgehalte angepasst werden müssen.

Schutz der Gesundheit

Es geht dabei sowohl um Mutterkornsklerotien – die schwarzen, grossen Körner in befallenen Ähren – als auch Ergotalkaloide, also die Giftstoffe des Mutterkorns. Die EU hat den Schritt bereits vollzogen, und es gelten in den Mitgliedstaaten seit 2022 tiefere Höchstwerte. Die Schweiz zieht nach: Ab Februar 2024 gelten um mehr als die Hälfte tiefere Höchstwerte für Mutterkorn bei Getreide im Lebensmittelsektor. Es handle sich um Anpassungen nach den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Entwicklungen, heisst es auf Anfrage beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV). Es gehe um den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung.

«Wir kennen die neuen Werte, aber noch nicht den genauen Verordnungstext», erklärt Swiss-Granum-Direktor Stephan Scheuner. Man habe sich allerdings vorgängig mit dem BLV ausgetauscht zur Umsetzung der neuen Höchstwerte und die Verantwortlichkeiten diskutiert. «Die neuen Werte bedingen eine Ergänzung der Swiss-Granum-Übernahmebestimmungen», so Scheuner weiter. Die nötigen Ausführungen werden von den Marktpartnern diskutiert und voraussichtlich im kommenden März verabschiedet.

Für Tiere bedenklich

Für die Verwendung von ungemahlenem Getreide als Futtermittel gilt ein anderer Höchstwert als im Lebensmittelbereich: Es darf maximal 1 g/kg Mutterkorn enthalten. Wissenschaftlich sei es allgemein anerkannt, dass Mutterkornalkaloide in Futtermitteln für die Tiergesundheit bedenklich sein können, schreibt das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) auf Anfrage. Offenbar diskutiert man aber auch für Futtermittel eine Senkung des Höchstgehalts von Claviceps purpurea. Dies angesichts der technischen Entwicklung. «Durch Anwendung guter Praktiken, einschliesslich Sortiertechniken, kann der Mutterkorngehalt von Getreide reduziert werden», so das BLW.

Keine Schnelltests

«Die Umsetzung der neuen Höchstgehalte für Mutterkorn und Ergotalkaloide wird alle Partner entlang der Wertschöpfungskette Brotgetreide stark herausfordern», ist sich Stephan Scheuner bewusst. «Für die Messung existieren (auch noch) keine Schnelltests wie bei den Mykotoxinen, welche bei der Erfassung des Getreides in den Sammelstellen resp. in den Mühlen angewandt werden können.»

Bisher gibt es in der Schweiz nur einen Höchstwert für Mutterkorn, der bei 0,5 g/kg Getreide für die Weiterverarbeitung angesetzt ist. Die EU setzt maximal 0,2 g/kg, wobei für Roggen bis Sommer 2024 0,5 g/kg gelten. Diese Getreideart habe ein erhöhtes Risiko für Mutterkorn, so die Begründung der EU. In einem von Swiss Granum durchgeführten Monitoring gab es Posten, bei denen der Mutterkornbefall eingangs Sammelstelle und nach der Reinigung unterhalb der Nachweisgrenze bzw. unterhalb der Höchstgehalte lag. Die gleichen Posten wiesen aber nach der Vermahlung einen Ergotalkaloidgehalt über dem neuen Höchstgehalt auf. Dies, obwohl der Roggen nach guter, langjährig angewandter Herstellungspraxis gereinigt und aufbereitet worden sei. «Die Umsetzung der neuen Vorschriften liegt somit an der Grenze des heute technisch Machbaren», schildert Stephan Scheuner.

Auch die EU hält fest, dass es zwar einen statistisch signifikanten linearen Zusammenhang gebe zwischen dem Gehalt an Mutterkornsklerotien und Ergotalkaloiden. Das Nichtvorhandensein der schwarzen Körner schliesse aber eine Alkaloidbelastung nicht aus. «Ein Grund dafür ist, dass bei der Handhabung des Getreides die Sklerotien zerbrechen und die Getreidekörner den dabei entstehenden Mutterkornstaub absorbieren», heisst es dazu im Amtsblatt der EU. «Mit Mutterkorn befallenes Getreide sollte vor der Reinigung so wenig wie möglich bewegt werden», bestätigt Stephan Scheuner, «sonst kann der Abrieb die Ergotalkaloidbelastung verschlimmern.» Einen Posten zur Reinigung aus der Sammelstelle und anschliessend wieder zurückzutransportieren, gilt es daher zu verhindern.

Alle Stufen betroffen

Die neuen Höchstwerte sind gemäss Stephan Scheuner ein Thema, das alle Stufen betrifft. Entsprechend hat Swiss Granum auch Handlungsempfehlungen von Anbau über Ernte, Transport, Lagerung, Handel und Mahlen bis zur Herstellung von Brot und Backwaren erarbeitet (siehe Kasten unten). Gegen den pilzlichen Erreger Claviceps purpurea ist kein Pflanzenschutzmittel zugelassen.

Wie sich die geänderten Anbaubedingungen hinsichtlich Klimawandel auf die Pilzkrankheit auswirken werden, lässt sich laut Scheuner heute noch nicht beantworten. Ebenso, welchen Effekt potenzielle Wirtspflanzen im Feld oder auf nahen Biodiversitätsförderflächen haben könnten. «Wir sind dran. Was aus unserer Sicht jedoch fehlt, sind Erhebungen zu möglichen Wirten bzw. Wirtspflanzen des Mutterkornpilzes», so der Swiss-Granum-Direktor.

Massnahmen in Anbau und Ernte

Der Pilz Claviceps purpurea lebt natürlicherweise im Boden und sein Auftreten lässt sich laut Swissgranum nicht gänzlich vermeiden. Geeignete Massnahmen auf verschiedenen Stufen können aber den Befallsdruck und die folgenden Verunreinigungen des Getreides mit Mutterkorn und Ergotalkaloiden reduzieren. Für den Anbau gibt es folgende Empfehlungen:

Fruchtfolge: Nicht-Wirte wie Blattfrüchte integrieren, zu enge FF mit Roggen und Triticale vermeiden.
Bodenbearbeitung: Mutterkörner auf der Bodenoberfläche können leichter Getreideblüten infizieren. Daher speziell nach Roggen oder Triticale wendend bearbeiten oder pfluglos tiefer als 5 cm.
Sortenwahl: Eine schnelle Befruchtung der Blüten reduziert die Wahrscheinlichkeit einer Infektion mit C. purpurea. Daher auf grosse Pollenschüttung und Mutterkorn-Resistenz achten (Sortenlisten). Bei anfälligeren Hybridsorten evtl. Populationssorten beimischen.
Saat: Gleichmässiges und schnelles Abblühen des Bestandes fördern (Saatstärke und -tiefe, Reihenabstand, Bestandsdichte, Düngung, Wachstumsreglereinsatz anpassen), ausreichend breite Fahrgassen gegen Spätschosser, zertifiziertes Saatgut verwenden.
Feldhygiene: Ungräser sind Mutterkorn-Wirtspflanzen, die es im Getreidebestand und auf Randstreifen zu bekämpfen gilt.
Vor-Ernte-Bewertung: Befallssituation beurteilen und Verwendung des Ernteguts festlegen.
Ernte: Bei Befall partielle Ernte eines Bestandes in Betracht ziehen. Mindestens Sichtkontrolle der Mähdruschpartien und Windreinigung der Ernte zur Entfernung des belasteten Staubs.

Die vollständigen Handlungsempfehlungen von Swissgranum finden Sie hier.  

Als man Mutterkorn förderte

Im 20. Jahrhundert wurde Mutterkorn in der Schweiz gezielt angebaut. Der Arnzeimittelhersteller Sandoz produzierte daraus eine Arznei für die Geburtshilfe und ein begehrtes Migränemittel, wie man bei der Schweizerischen Nationalbibliothek nachlesen kann: «Es ist eine unglaubliche Geschichte: Während sich die Schweiz der Anbauschlacht verschreibt und ennet des Rheins der Zweite Weltkrieg tobt, gehen Bauern, Anstaltsinsassen und Tagelöhnerinnen im Emmental und anderswo mit Impfbrettchen und -pistolen durch die Roggenfelder und stecken die Ähren mit Mutterkorn an.» Rund 3000 Bauern waren noch 1966 für den Mutterkorn-Anbau mit der Pharmaindustrie unter Vertrag, zeigt eine Sendung aus dem SRF-Archiv. In mühseliger Handarbeit wurde nach dem Dreschen – von der ganzen Familie – das Mutterkorn von den Roggenkörnern getrennt. Für die Bauern sei das eine attraktive Einnahmequelle gewesen.

LSD ist ein Bestandteil des Mutterkorns, seine psychedelische Wirkung wird per Zufall entdeckt und man erhofft sich zuerst einen medizinischen bzw. psychiatrischen Nutzen. LSD wird aber zum Suchtmittel und zur Droge, von der sich manche Künstler für ihre Werke haben inspirieren lassen.