Andreas Bigler erinnert sich noch gut an die erste Begegnung mit Ilhan Koculu. In Italien sei das gewesen, im Jahr 2011, als er für Fromarte den Stand mit Emmentalerkäse an der Slow-Food-Messe betreute: «Während wir den Stand bereitstellten, kam er, probierte von den vorgeschnittenen Häppchen, lächelte und ging wieder. Reden konnten wir kein Wort», erzählt Bigler. Das war dann ein Jahr später anders. Koculu brachte einen Übersetzer mit und nun wurde klar, er suchte jemanden, der in der Türkei den einheimischen Käsern zeigte, warum der Schweizer Käse so gut schmeckt.

 

Das geschah noch im Jahr 2011

  • Im Kernkraftwerk Fukushima kommt es zum verhängnisvollen Störfall.
  • Steve Jobs, der Mitbe-gründer von Apple stirbt.
  • Auch Loriot verlässt die Bühne des Lebens.
  • In Nordafrika herrscht der Arabische Frühling, die Machthaber Libyens und Ägyptens werden ihrer Ämter enthoben.
  • Der Euro taumelt, der Schweizer Franken steigt und die Wirtschaft leidet.
  • Die Schweiz feiert den Durchstich der Weströhre des Gotthardbasistunnels.
  • Alain Berset ersetzt Micheline Calmy-Rey im Bundesrat.

Das Armenhaus Europas

Andreas Bigler legt Fotos auf den Tisch. Steinhütten in Hänge hinein gebaut, Haufen mit getrocknetem Kuhmist, Pferdefuhrwerke, braune Kühe in kleinen Ställen. «Als ich 2012 das erste Mal in der Türkei war, traf ich eine Käsereitechnik an, wie sie mein Grossvater noch hatte», erinnert er sich zurück. Und er erzählt auch, wie es dazu kam: «Vor hundertfünfzig Jahren war die Schweiz das Armenhaus Europas. Viele Bauernfamilien hatten 12, 15, manchmal 20 Kinder und konnten die kaum ernähren.» Bigler holt aus seinem Koffer, der auf dem Tisch steht, Geschichtsbücher hervor, zeigt Fotos von damals, als die jungen Burschen in der Schweiz keine Zukunft sahen und in unbekannte Länder auswanderten, deren Sprache sie nicht sprachen und deren Kultur sie nicht kannten.

Schweizer Käser sind gefragt

Zuvor erlernten viele der Auswanderer jedoch das Handwerk des Käsens in einer Schnellbleiche in der Dorfkäserei und waren so an den Kaiser- und Königshäusern gefragte Leute. «Es waren nicht die Bravsten die auswanderten, Haudegen zum Teil, Abenteurer. Doch hatten viele nach wenigen Jahren Heimweh, kamen in die Schweiz, heirateten ihr Schulschätzeli von damals und waren ab dann in der neuen Heimat angesehene Leute», erzählt Andreas Bigler. Die Frauen schlugen Brücken zur neuen Kultur, erlernten die Sprache, integrierten sich und die Kinder in die Gesellschaft. Auch Biglers Grossvater ebnete die Heirat sozusagen über Nacht den weg zum Käser. Damals habe das Dorf Arni einen Käser gesucht und über 120 Bewerbungen seien eingegangen. Während Wochen seien die damals 40 Milchproduzenten von den Anwärtern umworben worden, so dass man, als die Wahl anstand, keine Ahnung hatte, wen man wählen wolle. So sei man rätig geworden, dass man den bisherigen Hüttenknecht der Käserei, Biglers Grossvater, zum Käser ernennen könnte. Doch der sei blöderweise ledig gewesen und habe sich zwei Wochen Bedenkzeit herausgehandelt. Während diesen zwei Wochen machte er die Serviertochter des Rössli einen Antrag und wurde so 1907 Käser in Arni. Sein Sohn und sein Enkel traten später in seine Fussstapfen.

Ein Pionier aus Arni

Auch in der Türkei trifft Andreas Bigler auf die Spuren eines Auswanderers aus Arni. David Moser wanderte 1868 von Arni in den Kaukasus aus, wurde als Käser und Milchkäufer ein reicher Mann. Mit den Turbulenzen des ersten Weltkrieges flüchtete er in die Türkei wo er das Käserhandwerk weiterführte und weitere Unternehmen aufbaute. Ende des ersten Weltkrieges musste er mit der Revolution wie viele andere Auswanderer fliehen und konnte nichts ausser ein paar Teppiche mitnehmen. Zurück liessen die Schweizer Auswanderer auch das Wissen um die Käseherstellung und oftmals Kuhherden, welche sie per Eisenbahn aus der Schweiz mitgebracht hatten. Noch heute sehe man in der Türkei viele Kühe, die stark an unsere Simmentaler und das Braunvieh erinnerten. Auch der Käse, der in der Türkei hergestellt wird, erinnert optisch stark an den Emmentaler. Er hat viele Löcher und wird in grossen Laiben gefertigt.

Milchqualität steigern und die Hygiene verbessern

Andreas Bigler wird 2012 bei seiner ersten Reise in die Türkei mit offenen Armen empfangen und zum gefragten Mann. Zeigt zusammen mit zwei anderen Käsern, wie die Hygiene verbessert werden kann und den Landwirten, wie sie die Milchqualität steigern können, hält Vorträge an der Uni. Mit Ilhan Koculu bereist er in erster Linie die Region Kars, ganz im Osten der Türkei, an der armenischen Grenze. Und entdeckt dort das, was seine Frau als «seine Leidenschaft für die Türkei und deren Geschichte» bezeichnet. Er schwärmt von der Gastfreundschaft, die er durchwegs erleben durfte, obwohl er die Sprache nicht spricht und stets mit einer Übersetzerin unterwegs ist. Immer wieder zieht es ihn ab 2012 in die Türkei. Zuvor, als er Käser in Arni war, hatte er kaum Zeit zum Reisen, hatte lange Arbeitstage und kaum Ferien. Und das, obwohl er in jungen Jahren bereits die Auswanderung nach Australien geplant hatte. 1970 hatte er in Melburne (AUS) eine Arbeit und Wohnung gefunden, als er sich doch noch von den Landwirten überzeugen liess, zu bleiben und die Käserei des Vaters mit seiner Frau Veronika weiterzuführen. Doch auch mit der Pensionierung setzt Andreas Bigler sich weiterhin für das Käsehandwerk ein. So zeigt er den Besuchern der Schaukäserei in Affoltern, wie gekäst wird, geniesst auch dort die Kontakte mit den internationalen Gästen.

Eine Schaukäserei im türksichen Kars

Natürlich zeigt er auch regelmässig seinen türkischen Freunden die Schweiz. Besucht dann mit ihnen Käsereien und zeigte ihnen auch die Schaukäserei. So kommt es, dass nur kurze Zeit später Ilhan Koculu in Kars (TUR) auch eine Schaukäserei errichtet. «Als ich das nächste Mal in die Türkei kam, stand sie schon, die Schaukäserei», erzählt Bigler, lacht und zeigt Fotos von einem Backsteinhaus mitten im Nirgendwo. Von den politischen Wirren merke man fernab des Zentrums wenig. Kurden und Türken lebten in dieser Region friedlich zusammen und die Dorfgemeinschaften hätten einen enormen Zusammenhalt. So habe es auch keine finanzielle oder materielle Hilfe aus der Schweiz gebraucht, um die Schaukäserei zu bauen. Wo Bigler helfen konnte, war bei den Gästen. Er, der mittlerweile selbst Gruppenreisen in den Osten organisiert, um dort das Käsehandwerk, Land und Leute zu zeigen, sorgte bei einem Freund dafür, dass regelmässig Reisegruppen aus dem Iran die Schaukäserei besuchen und die nötigen Einnahmen bringen.

Das Langnau der Türkei

Reich werde die Region mit dem Käse nicht, aber sie könne gut davon leben. Besuche man einen Basar in Istanbul, sei er oft im Angebot, der grosslochige «Gravyer» aus Kars. Sehr salzig sei er für den Schweizer Gaumen. Kars sei das Langnau der Türkei, das Käsezentrum. Mit fast 2000 m ü. M. liege es jedoch deutlich höher. Gemolken und gekäst werde saisonal, denn die Winter seien streng und die Kühe würden vorwiegend mit Grundfutter gefüttert. Im Winter seien sie grösstenteils für zwei oder drei Monate galt.

 

Sommerserie 2020

Die Sommerserie der Region Nordwestschweiz, Bern und Freiburg ist in diesem Jahr eine Reise in die Vergangenheit. Menschen erzählen von Ereignissen, welche ihr Leben veränderten, reisen gedanklich in diese Zeit zurück.

Weitere Teile dieser Sommerserie finden Sie hier.