Es ist eine der Zahlen, die nicht einmal hinter vorgehaltener Hand zu erfahren sind. Wer danach fragt, wird als Denunziant und Nestbeschmutzer betitelt und davor gewarnt, «schlafende Hunde zu wecken». Doch was dabei herauskommt, wenn die Branche ein Problem verschweigt, unter den Teppich kehrt, ja vielleicht gar totschlägt, das konnte vergangenes Wochenende in der «NZZ» gelesen werden.

Unter dem Titel «Zu viele Kälber werden geboren – wir entsorgen sie wie Müll» versucht eine offensichtlich branchenferne Journa­listin, den «verschwundenen» Tränkern auf die Spur zu kommen. Wer allerdings mit einer Zwischenkalbezeit von 205 Tagen rechnet und die Grossviehmast ganz vergisst, der landet mit seiner Milchbüchleinrechnung bei der Annahme, dass von 680000 Kälbern vier Fünftel «verschwinden».

Auch wir haben nachgefragt

Dass die Journalistin mit einer solchen an den Haaren herbeigezogenen Rechnung arbeitet, bringt ein noch grösseres Problem der Branche zutage als das der Wurstkälber, nämlich die Unfähigkeit, dies angemessen zu kommunizieren. So bleibt zu vermuten, dass es der NZZ-Journalistin ging wie der BauernZeitung. Denn auch wir haben bei Proviande, der Branchenorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft, nachgefragt, wie viele Kälber es denn nun sind, die eigentlich niemand möchte und die im Alter von wenigen Wochen in der Metzg landen.

Die Antwort bleibt schwammig bis abweisend. Das Alter der geschlachteten Kälber werde nicht spezifisch erhoben. Es sei davon auszugehen, dass Wurstkälber X-Kälber mit einem Gewicht ­kleiner als 115 kg seien, dies könne man bitte schön im Jahresbericht von Proviande nachschauen. Dort ist für die vergangenen Jahre zumindest ein Anstieg des Anteils X-Kälber auszumachen. Genaue Zahlen sind keine zu finden. Auch auf Nachfrage betont Proviande, dass man die monatliche Anzahl X-Kälber leichter als 115 kg nicht für externe Zwecke publizieren dürfe.

7600 Wurstkälber pro Jahr?

Laut Jahresbericht von Proviande waren es – soweit im Diagramm abschätzbar – 2019 noch zwischen 2 und 3 Prozent der Kälber, die mit X taxiert wurden. Zum Vergleich, bei allen anderen Mastkategorien ist der Anteil X-Tiere unter 1 Prozent. Im vergangenen Jahr dürften es gut 4 Prozent der geschlachteten Kälber gewesen sein, die un­gemästet an den Haken kamen. Wären dies nun alles Wurstkälber, ist bei einem Total von 190 367 Schlachtkälbern von 7600 Wurstkälbern pro Jahr auszugehen. Diese Kälber fallen innert wenigen Wochen an, wenn saisonbedingt so viele Kühe kalben, dass die Mastställe den Tränkeranfall nicht bewältigen können. Es sind diese Kälber, die der Milchproduktion Bauchschmerzen bereiten und deretwegen man die Reputa­tion einer ganzen Branche aufs Spiel setzt – indem man deren Anzahl tunlichst verschleiern will.

Mehr Totgeburten, wenn zu viele Tränker auf den Markt kommen

Doch es gibt eine zweite unschöne Zahl, die im Zusammenhang mit den Kälbergeburten Fragen aufwirft. Laut Statistik von ­Identitas hat ein männliches Milchrassenkalb in den Wintermonaten, also dann, wenn zu viele Tränker auf den Markt ­kommen, ein rund doppelt so hohes Risiko, bei der Geburt zu sterben, wie ein weibliches ­Mutterkuhkalb, das in den gleichen Wochen geboren wird. So wurden im vergangenen Jahr 227 522 männliche Milchrassenkälber geboren, 5,5 Prozent davon waren tot, also gut 12 000 Stück. Zum Vergleich, bei männlichen Mutterkuhkälbern sterben 3,5 Prozent bei der Geburt. Dies sind laut Milchbüchlein rund 4500 männliche Milchrassenkälber, die durch die höhere Mortalität der Milchrassen zu sterben scheinen.

Der Spekulationen sind viele. Mit Kommunikation könnte man abhelfen. Doch anstelle der Branche, die vom Bund für die Absatzförderung von Schweizer Fleisch unterstützt wird, tut dies für einmal eine NZZ-Journalistin, die zur Schlussfolgerung kommt: Wer Milch trinken will, der muss auch Kalb essen. Und das könnte man dem Konsumenten genauso er­klären, wie es die Eierproduzenten mit dem Suppenhuhn tun. Jeder Schweizer konsumiert rund 300 Liter Milch pro Jahr. Rechnet man mit einer durchschnittlichen Laktation von 8000 kg, dann müsste jeder Schweizer sich mit 25 anderen Milchtrinkern ein Kalb teilen oder entsprechend Rindfleisch aus der Grossviehmast essen.

65 Franken für den Weg vom Schlachthaken zur Ladentheke

Und seien wir ehrlich, zwar ist Kalbfleisch deutlich teurer als Suppenhuhn, aber auch eindeutig ein grösserer Genuss. Doch was das «teuer» angeht, stellen sich wiederum Fragen. Den Tränkern, die niemand will, und den Mästern, die wegen fehlender Wirtschaftlichkeit aufgeben, stehen Konsumentenpreise gegenüber, die beim Kalbfleisch so stark wie bei keinem anderen Fleisch gestiegen sind.

Während ein Schweinsplätzli in den vergangenen zehn Jahren 2 Prozent teurer wurde, stieg der Preis für ein Kalbsplätzli um 16 Prozent. Es kostet damit im Laden dreimal mehr als Schweinefleisch. Oder anders gesagt, vom Schlachthaken bis zur Ladentheke wird ein Kilo Schweinefleisch rund 20 Franken teurer, beim Kalbfleisch liegen 65 Franken dazwischen. Da stellt sich unter dem Strich die Frage, ob hier wirklich eine ganze Branche gemeinsam und mit aller Kraft an einem Kälberstrick zieht oder ob da noch mehr möglich wäre als der Versuch, das Problem unter den Teppich zu kehren.


Verbände fordern Richtigstellung

Der Schweizer Kälbermäster-Verband, die Schweizer Rindviehproduzenten, die Arbeitsgemeinschaft Schweizerischer Rinderzüchter, Swiss Beef und der Schweizer Bauernverband (SBV) haben bei der Chefredaktion der «NZZ am Sonntag» interveniert: Der am 23. Juni erschienene Artikel «Zu viele Kälber werden geboren – wir entsorgen sie wie Müll» enthalte falsche Berechnungen und falsche Schlussfolgerungen, heisst es in dem Schreiben der Verbände. Kälber seien in der Schweiz nicht unerwünscht und würden wegen dem strengen Tierschutzgesetz auch nicht schlecht behandelt, wird weiter festgehalten. Auch das illegale Töten von Kälbern sei in der Schweiz keine gängige Praxis. Die Verbände fordern von der Zeitung eine Richtigstellung. 

Auch die Schweizer Milchproduzenten (SMP) haben auf den Bericht der Berliner Journalistin reagiert. Er suggeriere indirekt, dass in der Schweiz ähnliche Verhältnisse herrschten wie in der EU. Das sei falsch. Dank der Erfassung in der Tierverkehrsdatenbank (TVD) sei es in der Schweiz gar nicht möglich, dass Tiere «verschwinden», halten die SMP fest. Das illegale Töten von neugeborenen Kälbern sei in der Schweiz keine übliche Praxis. Wo dies geschehe, «hätten die Schweizer Milchproduzenten (SMP) das ureigenste Interesse, den Missstand zeitverzugslos und mit allen Mitteln zu beseitigen. Das hat nichts mit Schweizer Milchproduktion zu tun», heisst es in dem Schreiben.  

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