Ich denke, für die Getreidebranche bin ich ein ziemlich berechenbarer Faktor. Ich kaufe meist kurz vor Ladenschluss ein, nehme im Brotregal, was die anderen Kunden liegen gelassen haben. Welche Sorte ist zweitrangig, Hauptsache, es ist ein Käfer oder ein Schweizerkreuz drauf. «Warum kaufst du das Brot mit dem Käfer?», fragte mich neulich ein junger Kollege und ich entgegnete, dass ich dann nicht die Lesebrille hervorkramen und die Zutatenliste nach Import-Ingredienzien absuchen muss. Ja, aber warum beim Brot? «Oder liest du etwa jede Zutatenliste?», wollte er noch wissen. Ich bejahte, und er nippte schweigend an seinem Red Bull.
Spontaneinkauf und Fruchtfolgeplanung
Bewusst einkaufen ist anstrengend, zeitraubend, deprimierend und zuweilen teuer. Mich erstaunt es nicht, dass es sich viele Kunden einfach machen und das kaufen, worauf sie gerade Lust haben, was halt im Budget liegt, was der Grossverteiler besonders gluschtig anrichtet. Doch wie soll die vorgelagerte Branche das planen, ohne dass tonnenweise Brotweizen im Schweinetrog landet? Der Bauer entscheidet jetzt, was er im Frühling säen wird, was im Winter 2024 in den Brotregalen liegt und der Konsument, so der Einkaufsgott will, kaufen wird.
Vom Grundnahrungsmittel zur Ersatzreligion
Lange Zeit waren diese Märkte verlässlich, stabil, planbar. Da ass man vom Kilo Ruchbrot zum Zmorge, zum Zvieri und zum Znacht. Manches solches kilöniges Ruchbrot habe ich als Kind vom Dorfbäcker nach Hause getragen. Trocken war es, manchmal zweitägig, struktur-, geschmack- und lieblos. Ein Grundnahrungsmittel, nicht mehr und nicht weniger. Das, was bei der Bäckerei liegen blieb, wurde eingefroren oder von unseren Kaninchen gefressen. Das Wort Food Waste gab es damals noch nicht.
55% endet als Food Waste
Nicht einmal die Hälfte aller Backwaren landet heute auf dem Teller. 55 % des Brotgetreides wird ungegessen entsorgt oder im besten Fall anderweitig verwertet. Essen ist Modeströmungen unterworfen, teils zur Ersatzreligion geworden. Was gestern noch gesund war, ist heute pfui. Bäckereien, die während Corona noch zur tragenden Säule der Gesellschaft hochgejubelt wurden, schliessen heute wegen den explodierenden Stromkosten und fehlenden Fachkräften.
Hohe Löhne machen uns unbezahlbar
Die Schweiz wird für uns alle zusehends unbezahlbar. Die Wirtschaft, die wir in der Coronazeit hochgekurbelt haben, fällt uns nun auf die Füsse. Unsere hohen Löhne machen die einheimische Arbeit für uns zusehends unbezahlbar. Da ist der gesunde, aber teure Dinkel, der nun in den Silos der Getreidemühlen liegen bleibt, nur ein kleiner Fisch, wenn auch ein sehr ärgerlicher. Es zeigt einmal mehr, wie viel Lippenbekenntnisse von Handel und Konsument zählen. Stehen Herr und Frau Schweizer vor dem Brotregal, ist ihnen nur ihr Portemonnaie am nächsten.
Bestellen und nicht kaufen
Vergessen sind Pestizidfreiheit, Hasengassen, Düngernormen und Regionalität, wenn der Tiefstpreis lockt. Anders als bei anderen Unternehmen kann man beim Landwirt via Direktzahlungen bestellen, was man gar nie kaufen will. Fürs gute Gewissen, für die schöne Landschaft, für die härzige Bäckerei im Dorf. Einkaufen tut man dann im Discounter und die Landschaft bewundert man aus dem Ferienflieger.
Ein schmaler Grat zwischen zuviel und zuwenig
Der Unmut der Landwirte ist verständlich. Sie sind das letzte Glied einer Kette mit vielen Unbekannten, die sich weder planen noch beeinflussen lassen. Noch vor einem Jahr herrschte weltweit Getreidepanik, niemand wusste, wie viel Getreide auf den Markt kommen wird. So kommen zu veränderten Konsumgewohnheiten veränderte Weltmärkte hinzu. Wo gestern noch eine Rekordernte die Preise sinken liess, kann schon heute ein Hagelwetter oder der Düngerpreis alles verändern. Die Märkte müssen mit globalisierten Trends leben. Panik und alles in eine Waagschale zu werfen, lässt die Märkte immer heftiger schaukeln zwischen zu viel und zu wenig. Bei einer Weltbevölkerung von 8 Milliarden Menschen ist es entscheidend, ob alle das letzte Stück Brot aufessen oder dem Hund füttern.
Grosse Massen bewirken grosse Marktbewegungen
Eine immer grössere Bevölkerungszahl steht immer weniger Landwirten gegenüber, die lernen müssen, mit den Wellenbewegungen dieser Massen umzugehen. Wer kurzfristigen Trends nachrennen will, muss schnell sein. Hier hilft der Gedanke, dass nach schlechten Zeiten immer auch wieder bessere kommen. Glücklich, wer einen Plan B hat und sich weder auf das Gute im Konsumenten noch auf Wahlversprechen verlassen muss. Essen werden die Menschen immer, die Frage ist nur, was und in welcher Menge. Und diese Frage wird immer schwieriger zu beantworten sein.