Lernende sind bei der Arbeit besonders gefährdet. Ihnen fehlen die Erfahrung, die Routine und das geübte Auge, um potenzielle Gefahren rechtzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Das Risiko für Lernende, einen schweren Unfall zu erleiden, ist deshalb um 50 Prozent höher als bei erfahrenen Berufsleuten.

Hohe Unfallquote in der Landwirtschaft

Wer auf diese Leiter steigt, setzt sich einem gewissen Risiko aus. Zeit für eine sicherere Lösung? BUL Wie sicher sind Sie in Ihrem Arbeitsalltag? Friday, 20. January 2023 Jüngste Daten der Sammelstelle für die Statistik der Unfallversicherung (SSUV) belegen, was die Branche im Grunde genau weiss: Mit 115 Unfällen pro 1000 Vollbeschäftigten gehört die Landwirtschaft zu den besonders risikoreichen Berufsgruppen. Dem Schutz der Lehrlinge muss also umso grösseres Augenmerk entgegengebracht werden.

Lernende im Fokus der Kampagne

Eine der Organisationen, die sich dieses Ziel gesetzt hat, ist der Interkantonale Verband für Arbeitnehmerschutz (IVA). Mit der neuen, zielgruppenorientierten Kampagne «BeSmart WorkSafe – Safety Bars» auf der Social-Media-Plattform Tiktok will der Verband die junge Generation sensibilisieren. Die BauernZeitung hat mit René Matter, dem Leiter der Präventionsfachstelle, über das Thema Arbeitssicherheit bei Lernenden gesprochen.

Herr Matter, die Zahlen zeigen es: Lehrlinge verunfallen in vielen Branchen besonders häufig. Woran liegt das?

René Matter: Das hat mehrere Gründe. Zum einen sind es natürlich das fehlende Fachwissen und die Unerfahrenheit der jungen Berufsleute. Ihnen fehlt die Erfahrung, um Risiken einschätzen zu können. Dann kommt aber auch eine gewisse Risikofreudigkeit der Jugend hinzu. Und letztlich ist vielfach das Selbstvertrauen noch nicht so ausgebildet. Junge Leute trauen sich vielfach nicht, Stopp zu sagen, wenn ihnen etwas nicht behagt. Zu gross ist die Angst, den Arbeitgeber zu verärgern oder von den Berufskollegen nicht ernst genommen zu werden.[IMG 2]

Hat im Bereich Unfallzahlen in den letzten Jahren eine Entwicklung stattgefunden? Schlägt sich der Effort der verschiedenen Beteiligten zahlenmässig nieder?

Ja, diese Bestrebungen machen sich durchaus bemerkbar. So ist die Zahl der Unfälle in den letzten Jahren merklich zurückgegangen. Aber es gibt einen Haken: Während die Gesamtzahl abgenommen hat, ist die Zahl der schweren bis sehr schweren Unfälle in der Landwirtschaft angestiegen. 2013 hat man in diesem Sektor insgesamt 155 schwere bis sehr schwere Unfälle verzeichnet, 2022 waren es 190.

«Es fehlt einfach sehr oft an der nötigen Konsequenz im Alltag.»

René Matter pocht auf eine beharrliche Umsetzung der Sicherheitsvorgaben.

Gilt die Landwirtschaft somit als besonders gefährliche Branche?

Ja, durchaus. Das Unfallrisiko ist etwa doppelt so hoch wie in anderen Berufsfeldern. Man arbeitet körperlich, hat dauernd Umgang mit Maschinen, mit Tieren, ist im Strassenverkehr unterwegs – da kann immer etwas passieren.

Wobei geschehen die meisten Unfälle?

Vier Unfalltypen sind besonders häufig: Man wird von etwas getroffen, man rutscht aus, verunfallt bei Transportarbeiten oder bei der Arbeit mit Tieren.

Das Thema Arbeitssicherheit wird in der Schweizer Landwirtschaft grossgeschrieben – trotzdem kommt es immer wieder zu gravierenden Unfällen. Wo muss oder kann die Branche über die Bücher?

Die Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft BUL hat mit Agritop eine gute Branchenlösung erarbeitet. Das wurde sehr professionell und von kompetenten Leuten konzipiert. Leider hapert es oft bei der Umsetzung – das muss im Alltag einfach konsequent gemacht werden.

Was heisst das konkret in Bezug auf Lehrlinge?

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Eine grundsätzliche Frage: Ist innerhalb der Landwirtschaft so etwas wie ein risikofreies Arbeitsumfeld überhaupt möglich?

Ein risikofreies Arbeiten nicht, aber ein unfallfreies, das geht. Man kennt die Gefährdungen und auch die nötigen Massnahmen. Ich wiederhole: Es fehlt einfach sehr oft an der nötigen Konsequenz im Alltag. Wer alle Arbeiten so ausführt, wie er sie gelernt hat, bleibt auch im Hochrisikobereich unfallfrei. Es ist die Nachlässigkeit, die schlimme Folgen haben kann. Es kann nicht sein, dass man bei einem Beinahe-Unfall sagt «Glück gehabt». Diese Form von Glück hat am Arbeitsplatz nichts zu suchen.

In der Landwirtschaftsbranche widmen sich etwa der Schweizer Bauernverband, die BUL, Agriss oder die Agridea dem Thema und das durchaus praxisbezogen und nahe bei den Bauern. Was kann Ihr Verband leisten, was bislang fehlt?

Wir arbeiten seit Jahren mit der BUL zusammen und sind in viele Kampagnen involviert, etwa in «Schon geschnallt?», die sich rund ums Thema Sicherheitsgurt dreht. Das nächste Projekt ist der Aufbau eines umfassenden Schulungskits für Lernende in der Landwirtschaft. Das wird ab dem zweiten Quartal 2024 auf www.safeatwork.ch bereitstehen.

Sicherheitsgurt – es gibt noch einige Luft nach oben
Im Jahr 2021 hat Swissmilk zusammen mit dem Schweizer Bauernverband und der Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) eine Wirkungsmessung zur Kampagne «Schon geschnallt?» durchgeführt. Dabei wurden 2088 Landwirte zur Kampagne befragt. 74 Prozent der Befragten gaben an, die Kampagne zu kennen und dass ihnen der Inhalt und das Logo bekannt seien. Doch den Sicherheitsgurt trugen gemäss eigenen Angaben nur gerade 22 %. Das ist nur rund ein Fünftel, aber doch eine Steigerung im Vergleich zum Jahr 2020. Dort gaben nur gerade 5 % an, den Sicherheitsgurt regelmässig zu tragen. 

Was kann man sich unter einem solchen Schulungskit vorstellen?

Das ist ein Ausbildungsleitfaden mit verschiedenen Modulen wie zum Beispiel «Stolpern und Stürzen» oder «Umgang mit Chemikalien». Die Ausbildungseinheiten fokussieren auf die grössten Risiken in den jeweiligen Berufen und dauern zwischen 30 Minuten und einer Stunde. Sie lassen sich also gut in Ausbildungen integrieren.

Mit Ihrer neuen Kampagne auf Tiktok richten Sie sich ganz gezielt an das junge Publikum. Wie muss man «die Jungen» heute ansprechen?

Es gibt bei jungen Leuten drei Gruppen, die sie informieren: Das sind zunächst die Eltern, das wird in der Pubertät immer schwieriger. Dann sind es Bezugspersonen wie Lehrer oder Ausbildner – auch hier gibt es eine gewisse Distanz. Die dritte Gruppe sind die Freunde und heute eben immer mehr Influencer oder Social-Media-Persönlichkeiten. Die Jugend ist auf diesen Plattformen unterwegs, dem müssen wir Rechnung tragen, wenn wir sie erreichen wollen. Folglich ist die Idee hinter unserer Tiktok-Kampagne, dass die Inhalte unter Freunden thematisiert werden. Das scheint gut zu funktionieren, wir hatten in der ersten Woche schon 230 000 Klicks.

«Lernende müssen nachfragen, wenn sie sich nicht sicher fühlen.»

René Matter betont, es sei wichtig, dass zwischen Lehrmeistern und Lernenden ein gutes Vertrauensverhältnis bestehe.

Was ist das Wichtigste, was Ausbildner, Lehrmeister oder Chefs von jungen Arbeitskräften tun können?

Am wichtigsten ist es, Selbstvertrauen zu vermitteln. Lernende müssen nachfragen, wenn sie sich nicht sicher fühlen, und dazu muss man sie immer wieder ermuntern. Das ist die wichtigste Message an den Nachwuchs: Fragt nach und seid euch sicher bei allem, was ihr tut.

Und was können die Lernenden selbst tun?

​Sie müssen sich trauen, etwas zu sagen. Sei das bei einem fehlenden Sicherheitsgurt oder einer fehlenden Abdeckung – sobald sie sich nicht sicher fühlen, müssen sie auf die eigene Intuition hören und das kommunizieren. Das Allerwichtigste ist es deshalb, Offenheit und Vertrauen im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu schaffen.