In der Diskussion um die Agrarpolitik 2022+ (AP 22+) wird oft die durch das Reformpaket erwartete Senkung des Selbstversorgungsgrads (SVG) kritisiert. Das sei nicht vereinbar mit dem Verfassungsartikel über die Ernährungssicherheit, argumentiert etwa der Schweizer Bauernverband (SBV). Als Ziel des Verbands nennt SBV-Direktor Martin Rufer, das derzeitige Niveau des SVG zu halten. Das hat seinen Grund, denn wenn man den SVG maximieren möchte, kommt man an einen Punkt, wo der Bauernverband nicht hinwill.
Kalorien sind nicht alles
Ein hoher Selbstversorgungsgrad klingt beruhigend. Er bedeutet eine geringe Abhängigkeit der Schweiz vom Ausland, da man sich selbst mit genügend Lebensmitteln versorgen kann. Leider hält der Begriff nicht ganz, was er verspricht.
Der SVG wird in Prozent angegeben und zeigt das Verhältnis zwischen Inlandproduktion und inländischem Gesamtverbrauch. Beim netto SVG zieht man von der Inlandproduktion jenen Anteil ab, der mit importierten Futtermitteln produziert worden ist. Netto bewegt sich der SVG in der Schweiz mit jährlichen Schwankungen zwischen 50% und 59%, brutto liegt er bei 58% bis 64%.
Der Haken an der Sache ist, dass man den SVG mit Kalorien berechnet. Für eine gesunde Ernährung braucht es aber nicht nur genügend Energie, sondern auch die richtige Zusammensetzung in punkto Nährstoffe, Vitamine usw. In einer akuten Mangellage, in denen Importe von Lebens- und Produktionsmittel plötzlich wegfallen, macht es Sinn, den Kalorienbedarf der Bevölkerung mit energiedichter Nahrung zu decken, erläutert Christian Ritzel von der Forschungsgruppe Sozioökonimie bei Agroscope. «Lediglich die Kalorienzahl zu optimieren, macht aber wenig Sinn», räumt er ein. Bei normaler Versorgungslage stehe eine gesunde, abwechslungsreiche Ernährung im Zentrum.
Inländische Zuckerproduktion steigert den SVG
Durch den Fokus des SVG auf Kalorien lässt sich die grosse Rolle der Schweizer Zuckerproduktion für diesen Wert erklären. Zucker liefert bereits in kleiner Menge viel Energie. Allerdings ist der Zuckerkonsum hierzulande bereits doppelt so hoch, wie von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlen wird – dies natürlich unabhängig davon, ob die Süsse hierzulande produziert wird oder nicht. «Eine Diskussion auf Basis eines Selbstversorgungsgrades ohne Zucker ist nicht sinnvoll, da Zucker
in der menschlichen Ernährung eine wichtige Stütze bei der Versorgung mit Kohlenhydraten ist. Zucker hat einen hohen Energiewert und ist auch in Krisenzeiten vielseitig einsetzbar», argumentiert das Bundesamt für Landwirtschaft in einem Faktenblatt zum SVG.
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Zuckerrüben enthalten viel Energie pro Masse – genau wie der daraus hergestellte Zucker, der sehr kalorienreich ist. (Bild Bildermacher1 / Pixabay)
Auch ein 100-prozentiger SVG bedeutet keine Unabhängigkeit
Was der kalorienbasierte SVG nicht erfassen kann, sind importierte Vorleistungen. «Dazu zählen etwa Landmaschinen, Energie, Saatgut, Pflanzenschutzmittel oder auch ausländische Arbeitskräfte», zählt Christian Ritzel auf. Selbst wenn sämtliche von Schweizerinnen und Schweizern benötigten Kalorien im Inland produziert werden würden, wäre die Schweiz demnach nicht unabhängig vom Ausland. Ausserdem haben wir uns an diverse Produkte gewöhnt, die hier gar nicht produziert werden können: Weder Kaffee noch Kakao wachsen in unseren Breiten.
So steigt der SVG
Das BLW nennt drei Möglichkeiten, wie eine deutliche Erhöhung des SVG in der Schweiz angesichts der begrenzten landwirtschaftlichen Nutzfläche möglich wäre:
- Umlagerung von der Tier- in die Pflanzenproduktion.
- Zusätzliche Intensivierung (mehr Tiere, Dünger, Kraftfutter, Pflanzenschutzmittel)
- Ökologische und ressourcenschonende Steigerung der Produktivität.
Alle drei Ansätze würden zwar den SVG steigern, haben aber schwerwiegende Nachteile. So würde die Umstellung von tierischer auf pflanzliche Produktion unter den herrschenden Marktbedingungen das landwirtschaftliche Einkommen senken. Während die Umwelt unter einer Intensivierung leiden und damit langfristig die Produktionsgrundlagen verloren gehen würden, liegt der Weg zu einer flächendeckenden schonenden Produktivitätssteigerung noch im Dunkeln. «Hier besteht ein grosser Forschungsbedarf», fügt das BLW an.
Vor allem vegan und 2'300 Kcal pro Kopf
«Rechnerisch wäre ein Schweizer SVG von 100 % möglich, wenn wir uns mit 2‘300 kcal pro Person und Tag zufriedengeben und unsere Ernährung weitgehend auf pflanzliche Basis stellen würden», erklärt Christian Ritzel. Der Wissenschaftler nennt noch einen weiteren Ansatzpunkt: Die Reduktion von Food Waste. Vermeidbare Lebensmittelverluste betragen heute immerhin einen Drittel der gesamten Produktionsmenge (wobei essbare Nebenprodukte und Bestandteile wie Kartoffelschalen oder Fischhaut eingerechnet sind). Umgerechnet auf Kalorien dürfte die beeindruckende Menge von 2,8 Millionen Tonnen Food Waste pro Jahr in der Schweiz allerdings kleiner ausfallen, da vor allem Gemüse und Backwaren verloren gehen. Öl und Zucker, beides sehr energiereiche Lebensmittel, sind bekanntlich lange haltbar. Dieser Hebel ist demnach eher kurz, was den SVG angeht.
Warum pflanzliche Nahrung den SVG steigert
Der Inlandanteil beim Fleisch beträgt in der Schweiz 80, bei hierzulande anbaubarem Gemüse 61 und bei Früchten 71 Prozent. Milch wird mehr produziert als verbraucht. Eine Erhöhung des SVG mit tierischer Produktion erscheint da naheliegender, als die Ackerflächen auszudehnen. Aber die Herstellung von Eiern, Milch, Käse und Fleisch sind aus Sicht des Ressourcenverbrauchs nicht effizient. «Der Umweg über pflanzliches Kraftfutter wie Mais, Getreide und Soja führt zu einem Kalorienverlust pro offene Ackerfläche, erklärt Christian Ritzel. Ausser bei Wiesen- und Weidefutter könnten diese Kalorien ohne Umwandlungsverluste für die menschliche Ernährung genutzt werden, wenn man z. B. Polenta, Brot oder Tofu essen würde. Gemäss Ritzel liegt der energetische Wirkungsgrad der Fleischproduktion bei etwa 10, jener von Eiern und Milch zwischen 15 und 20 %.
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Soja direkt zu essen (z. B. in Form von Tofu) ist effizienter, als wenn man es zwecks Fleischproduktion verfüttert. (Bild waichi2021 / Pixabay)
Würden alle Schweizer mager?
Eine überwiegend vegane Ernährung zugunsten eines hohen SVG dürfte kaum auf viel Gegenliebe stossen. Aber würden wir mit 2'300 kcal pro Kopf und Tag überhaupt durchkommen? Abhängig von Alter, Geschlecht und körperlicher Aktivität gibt die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung als Richtwerte für den täglichen Kalorienbedarf zwischen 1'100 (wenig aktives Mädchen zwischen ein und vier Jahren) und 3'400 kcal (sehr aktiver Jugendlicher zwischen 15 und 19 Jahren) an. Für die Empfehlungen der Lebensmittelpyramide gilt ein Wert von 1'800 bis 2'500 kcal als Richtschnur. Angesichts des zunehmenden Anteils älterer Menschen und Büroangestellter in der Schweizer Bevölkerung sowie der Abgabe schwerer Arbeiten an Maschinen im Zuge der Automatisierung, könnten durchschnittlich 2'300 kcal durchaus genügen, auch ohne Rationierung. Immer vorausgesetzt, die Ernährung stimmt nicht nur in punkto Kalorien, sondern auch in punkto Nährstoffe.
Unbekanntes Anbaupotenzial abseits der Felder
Rationierte Lebensmittel waren hingegen Teil des Plan Wahlen. Dieser sollte den SVG maximieren, um die Versorgung während des Zweiten Weltkriegs sicherzustellen. Wurde vor der «Anbauschlacht» noch rund die Hälfte der Lebensmittel aus dem Ausland importiert, erreichte man von 1940 bis 1945 eine Steigerung des SVG von 52 auf 70 Prozent. Gemüse und Kartoffeln wuchsen in Gärten, Parks und auf ehemaligen Weiden, denn der Viehbestand wurde auf Kosten des Ackerbaus gesenkt. Das Resultat: Doppelt so viel Brotgetreide, dreimal mehr Kartoffeln und viermal mehr Gemüse konnten produziert werden. Zugleich wurde die Anbauschlacht zum Symbol für den Widerstandswillen der Schweiz.
Einer moderneren Variante der Anbauschlacht stünden andere Möglichkeiten zur Verfügung: «Welche Potentiale die urbane Landwirtschaft im Hinblick auf die Erhöhung des SVG bietet, ist zumindest für die Schweiz noch nicht beantwortet», meint Christian Ritzel. In kleinem Rahmen experimentiert der städtische Raum mit vertikalem Anbau oder Aquaponik und auch das Gemüsebeet im Vorgarten scheint wieder in Mode zu kommen. Jeder selbst gezogene Salat, der einen aus Italien ersetzt, lässt den SVG ein kleines bisschen steigen.
Das Optimum hängt von der Perspektive ab
Wie weit sich der SVG auf eine Weise steigern liesse, die für Konsumenten wie Produzenten verträglich ist, bleibt schwer abzuschätzen. Letztlich ist es auch eine Frage der Perspektive. Das gilt auch für den optimalen SVG: Da man Lebensmittel im Ausland billiger herstellen und kostengünstig importieren könnte, wäre wirtschaftlich gesehen ein tieferer SVG sinnvoll. So argumentiert die Schweinbranche: Der Wertschöpfungskette Schwein gehe es dank höherer Preise am besten, wenn der SVG in diesem Bereich nicht über 93 Prozent steigt. Für die Versorgungssicherheit hingegen sollte der gesamtschweizerische SVG möglichst hoch sein. «Wahrscheinlich liegen wir insgesamt gar nicht so schlecht, also nahe am idealen Selbstversorgungsgrad für die Schweiz», wird Stefan Mann von Agroscope im LID-Dossier zitiert.
Ernährungssicherheit und Selbstversorgungsgrad
Ein hoher SVG bedeutet nicht automatisch, dass die Bevölkerung genügend Lebensmittel bekommt. Wie der LID in seinem Dossier ausführt, hat beispielsweise Argentinien einen SVG von über 200 Prozent. Allerdings sind viele der eingerechneten Kalorien entweder nicht für die menschliche Ernährung bestimmt oder werden exportiert. Die Abhängigkeit von Importen und damit ein tiefer SVG ist für die Ernährungssicherheit so lange kein Problem, wie stabile Handelsbeziehungen die Versorgung sichern, gibt Christian Ritzel zu bedenken. Im Fall von fossiler Energie und mineralischen Düngern ist die Schweiz gezwungenermassen vollständig auf Importe angewiesen. «Das Portfolio der Importländer kann auch bei den Produktionsmitteln grundsätzlich als breit abgestützt und stabil bezeichnet werden», heisst es dazu im Faktenblatt Ernährungssicherheit Nr. 5 des BLW.
Schweizer wollen mit Kaffee versorgt sein
Per Definition der FAO entspricht die Ernährungssicherheit einer Situation, in der alle Menschen zu jeder Zeit physischen, sozialen und wirtschaftlichen Zugang zu ausreichender, sicherer und nahrhafter Nahrung haben, die ihren Ernährungsbedürfnissen und - präferenzen für ein aktives und gesundes Leben entspricht. Das lässt Spielraum in der Herkunft der Lebensmittel, setzt aber bei Importgut eine ausreichende Kaufkraft voraus, um sich die Produkte auch leisten zu können. Angesichts entsprechender Pflichtlager gehört in der Schweiz genügend Kaffee offenbar genauso zur Ernährungssicherheit, wie Reis und Weizen. Hier spiegeln sich die Ernährungsbedürfnisse und - präferenzen der Schweizerinnen und Schweizer.
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Schweizerinnen und Schweizer sind es gewohnt, jeden Tag Kaffee zu trinken. Daher ist die sichere Versorgung mit dem eigentlich exotischen Getränk Teil der Ernährungssicherheit unseres Landes. (Bild mammela / Pixabay)