«Es braucht nicht viel, dass es zu bedeutenden Produktionsausfällen und -rückgängen kommt», schreibt der Schweizer Bauernverband (SBV) in seinem kürzlich erschienenen Lagebericht Pflanzenschutz. Der Pflanzenbau brauche dringend Perspektiven und klare Aussichten, heisst es weiter, «ganz besonders darum, weil Gesellschaft und Politik einen starken Ausbau der pflanzlichen Produktion fordern».
Volle Massnahmenpipeline
Das 23-seitige Papier des SBV liest sich wie ein Hilferuf. «Aktuell sind wir bei vielen Kulturen in einer Art Notfallmodus unterwegs», so das Fazit. Damit beziehen sich die Autoren auf die stark gesunkene Zahl der Pflanzenschutzmittel (PSM) sowie die immer zahlreicheren verbotenen Substanzen (siehe Kasten unten rechts).
«Seitens der Politik wird immer noch mehr gefordert – noch bevor das Beschlossene vollständig umgesetzt ist oder in Angriff genommen werden konnte.»
Der SBV über die Rolle der Politik im Pflanzenschutz.
Der SBV weist darauf hin, dass die Probleme wie Insekten- und Biodiversitätsrückgang sowie PSM-Rückstände in Oberflächengewässern und Grundwasser längst angekommen seien in der Landwirtschaft. Entsprechend voll sei auch die Pipeline der beschlossenen Massnahmen. Dabei sei die grosse Herausforderung, «dass seitens der Politik immer noch mehr gefordert wird – noch bevor das Beschlossene vollständig umgesetzt ist oder in Angriff genommen werden konnte», so das Fazit des Lageberichts.
BLW zurückgestuft
Besondere Besorgnis löst beim Dachverband das Verhalten des Bundesamts für Umwelt (Bafu) aus. Dieses konnte im Bereich Pflanzenschutz in den letzten Jahren einen kräftigen Machtzuwachs verzeichnen.
Im Zuge des politischen Aufruhrs um die Agrar-Initiativen hat der Bundesrat die Zuständigkeiten für die PSM-Zulassung neu verteilt. Seit November 2021 ist das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) für die Zulassung zuständig, und das Bafu beurteilt seit dem die Risiken für die Umwelt. Vorher war dafür Agroscope und damit das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) zuständig. Dieses wurde im Zulassungsprozess auf den Teil reduziert, der den Schutz der Kulturen betrifft.
NGO mit Beschwerderecht
Dazu kommen laut dem SBV-Bericht die zusätzlichen Befugnisse der Umweltorganisationen, welche 2018 auch bezüglich PSM-Zulassung das Verbandsbeschwerderecht erhalten haben, was die Einführung neuer Wirkstoffe weiter erschwert.
«Das Monitoring dient vor allem dazu, den Druck auf die Landwirtschaft zu erhöhen.»
Der SBV in seinem Lagebericht über die Politik des Bafu.
Das Bafu, dessen Wirken in bäuerlichen Kreisen oft mit demjenigen einer staatlich finanzierten Umweltorganisation verglichen wird, «legt die Spielregeln im chemischen Pflanzenschutz faktisch im Alleingang fest», so der SBV im Lagebericht. Das Hauptinstrument des Amts sei dabei das Monitoring von Gewässern bzw. deren Belastung mit PSM-Rückständen oder Metaboliten (Abbauprodukte).
Das Bafu im Alarmmodus
Man erinnert sich hier an die unerfreulichen Ereignisse im Zusammenhang mit Chlorothalonil. Hier hatte neben dem Bafu auch das BLV eine dubiose Rolle gespielt. Im Dezember 2019 stufte das BLV zwei wichtige Abbauprodukte als für die menschliche Gesundheit «nicht relevant» ein.
Trotzdem hob es laut dem Bericht des SBV den Unterschied zwischen «relevant» und «nicht relevant» auf. Weil damit gleichzeitig der Grenzwert von 10 auf 0,1 Mikrogramm/l gesenkt wurde, waren über Nacht in weiten Teilen der Schweiz plötzlich die Grenzwerte für Chlorothalonil-Metaboliten überschritten.
Das Bafu schaltete anschliessend in den Alarmmodus: Eine geschätzte Million Menschen werde aus Grundwasserbrunnen versorgt, in welchen die Grenzwerte überschritten seien, berichtete das Amt. «Die Art und Weise, wie die beiden Bundesämter kommunizierten, führte zu einer extremen Verunsicherung der Gesellschaft», so der Lagebericht des SBV.
Schärfer, als die EU es erlaubt
Damit aber noch nicht genug. Anschliessend entschied das Parlament, im Gewässerschutzgesetz zu verankern, dass sämtliche PSM-Abbauprodukte, also die Metaboliten, im Monitoring gleich zu behandeln sind wie die Wirkstoffe selber. Damit habe die Schweiz das mit Abstand schärfste Gewässerschutzgesetz der Welt erhalten. In der EU wurden die Metaboliten übrigens nicht gleichgestellt, deshalb fand dort auch keine Chlorothalonil-Debatte statt.
Auch in anderen Punkten unterscheidet sich das Vorgehen der Schweiz klar von demjenigen der EU. Das Wassermonitoring der EU beschränkt sich auf grosse Gewässer, während in der Schweiz der Fokus des Bafu auf kleinen und mittleren Fliessgewässern im landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebiet liegt. Damit sind auch die Anforderungen an die Produktion in der Schweiz deutlich höher.
Die ganze Macht in einem Departement konzentriert
Zudem erfolgt die Beurteilung der Proben sehr streng. Gemäss Bafu zählt eine einzige Probe über dem Grenzwert bereits als Überschreitung. In der EU hingegen betrachtet man laut dem SBV-Lagebericht den Durchschnitt der im Laufe des Jahres entnommenen Proben. Mit diesem Vorgehen werde der Zustand der Schweizer Gewässer nicht korrekt abgebildet, moniert der SBV. Das führe dazu, dass in den nächsten Jahren ein Grossteil der noch vorhandenen Wirkstoffe die Zulassung verlieren werde, eine klare Benachteiligung gegenüber den Produzenten in der EU.
«Mit diesem Vorgehen werde der Zustand der Schweizer Gewässer nicht korrekt abgebildet.»
Der SBV zum Monitoring des Bafu.
Dazu komme ein zeitlicher Aspekt: Das Bafu setzt das Monitoring ab sofort um, die Sanierung und Einrichtung der notwendigen Waschplätze für Spritzen braucht aber noch Zeit bis 2028. Auch die Umsetzung der neuen PSM-Verzichtsprogramme im Rahmen des ÖLN werde mindestens 2 bis 3 Jahre in Anspruch nehmen, so der SBV. Es sei also bereits absehbar, dass es im Monitoring zu Fehlaussagen kommen werde, die sich wiederum negativ auf die PSM-Zulassung auswirken würden.
Mit seinem Monitoring vereinige das Bafu sämtliche Macht in einem Departement, so der SBV. Es bestimme, welche Wirkstoffe wann, wo und wie gemessen werden. Zudem verfüge es durch den neuen Art. 9 im Gewässerschutzgesetz indirekt über die PSM-Zulassung. So, wie das Monitoring derzeit betrieben werde, diene es v. a. dazu, den Druck auf die Landwirtschaft weiter zu erhöhen.
«Das Bafu erfüllt seine Aufgaben aufgrund des Rechtsrahmens»
Wir haben dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) am Montag, 17. Juli einen ausführlichen Fragenkatalog zum Thema zugestellt. Am Mittwochabend, 19. Juli erhielten wir anstelle der Antworten von der Leiterin der Sektion Medien folgende Stellungnahme:
«Der erwähnte Lagebericht des Schweizerischen Bauernverbandes ist dem Bafu bisher nicht bekannt. Deshalb können wir uns auch nicht dazu äussern. Das Bafu erfüllt seine Aufgaben aufgrund des Rechtsrahmens von Gesetz und Verordnung, also von Vorgaben von Parlament und Bundesrat. Aufträge aufgrund politischer Vorstösse (Motionen) werden gemäss den vorgegebenen Prozessen umgesetzt. Die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ist durch die Pflanzenschutzmittelverordnung geregelt. Das Bafu nimmt die ihm darin vom Bundesrat zugewiesenen Aufgaben wahr. Der Steuerungsausschuss ‹Chemikalien und Pflanzenschutzmittel›, bestehend aus den Direktorinnen und Direktoren von BAG, BLW, Bafu, Seco und BLV, ist für die Strategie zur Bewilligung von Pflanzenschutzmitteln zuständig. Die Pflicht zur regelmässigen Information zum Gewässerzustand ist im Gewässerschutzgesetz (Art. 50) festgelegt. In der Gewässerschutzverordnung präzisiert der Bundesrat, dass das Bafu für die Information zuständig ist. Zur Umsetzung dieser Aufgabe braucht es das Monitoring.»
Die Zeitachse der Geschehnisse
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Die hier abgebildete Zeitachse zu den wichtigsten Entscheiden in Sachen Pflanzenschutzmittel-(PSM)-Regulierung zeigt, wie ambitiös der politische Fahrplan ist. Der SBV listet in seinem Lagebericht sechs Hauptgründe für dieses Tempo auf:
- die weltweite Glyphosat-Diskussion,
- Insektenschwund (auch im Zusammenhang mit den Neonicotinoiden),
- das Pflanzenschutzmittel-Zulassungsverfahren,
- das Gewässermonitoring,
- der Fall Chlorothalonil und
- die Agrar-Initiativen.
Die Dynamik des Prozesses führte zu diversen politischen Vorstössen und Massnahmen. Die wichtigsten sind der Nationale Aktionsplan Pflanzenschutz vom September 2017, die Fachbewilligung Pflanzenschutz (Fabe) und die Parlamentarische Initiative 19.475, bestehend aus vier Teilpaketen.
Das erste Paket: Es wird ab 2023 umgesetzt und brachte bekanntlich neue Produktionssystembeiträge, das Verbot von elf wichtigen Wirkstoffen, die mindestens 3,5 Prozent BFF auf dem Acker, die Einführung von «Digiflux» und die Senkung von N- und P-Verlusten. Die Konsequenzen sind laut SBV eine Reduktion der produktiven Fläche und zusätzlicher administrativer Aufwand.
Das zweite Paket: Es befindet sich in Umsetzung. Hier geht es um die regelmässige Prüfung von Waschplätzen, die Ausdehnung des Gewässermonitorings und seine Verschärfung. Letzteres führt zum Wegfall weiterer Wirkstoffe. «Je mehr Wirkstoffe wegfallen, desto grösser die Gefahr der Grenzwertüberschreitung bei einem anderen Stoff», kommentiert der SBV.
Das dritte Paket: Es bringt die Meldepflicht der in Verkehr gebrachten Biozidmengen, die Umsetzung ist für 2024 geplant. Die Auswirkungen auf die Pflanzenproduktion sind gering. Der SBV kritisiert aber, dass das Bafu hier die Aufzeichnungspflicht vertagt hat, weil so die Quellen nicht eruiert werden können und die Gefahr gross ist, dass die Landwirtschaft als Sündenbock hinhalten muss.
Das vierte Paket: Es befasst sich mit dem Schutz des Grundwassers. Der Zeitpunkt ist offen. Der SBV befürchtet, dass durch die Definition der Zuströmbereiche und weitere Massnahmen die produktive Fläche erneut stark reduziert werden könnte.
Seit 2005 wurde 208 Wirkstoffen die Zulassung entzogen
In seinem Lagebericht zum Pflanzenschutz befasst sich der Schweizer Bauernverband (SBV) auch mit den Entwicklungen bei den Wirkstoffzulassungen. Die Zahlen sind eindrücklich: Seit 2005 ist 208 Wirkstoffen die Zulassung entzogen worden. Allein in der Periode zwischen 2013 und 2022 waren es deren 88. In der gleichen Zeit wurden lediglich 41 neue Wirkstoffe zugelassen, wovon deren 12 Mikro- und Makroorganismen waren. «Die Neuzulassungen konnten die Rückzüge der alten Substanzen in der Zahl und in der Wirkung bei weitem nicht ausgleichen», schreibt der SBV.
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Noch 334 Wirkstoffe zugelassen
Aktuell sind noch 334 Wirkstoffe zur Verwendung zugelassen. Dazu zählen laut dem Lagebericht auch sämtliche natürlichen Wirkstoffe wie z. B. mehrere Stämme von Bacillus thuringiensis, diverse Fettsäuren, Pflanzenöle, Magermilchpulver, Schaffett oder Trichogramma-Schlupfwespen, heisst es mit Verweis auf Daten des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen. Diese Substanzen seien in Sachen Wirkungssicherheit und Dauer nicht ansatzweise mit den alten vergleichbar, so der SBV.
«Verantwortungsloses Vorgehen»
Gleichzeitig stauen sich derzeit rund 700 Gesuche bei den Zulassungsbehörden, wie man kürzlich dem «Tages-Anzeiger» entnehmen konnte. Für den Schutz der Kulturen stünden oft nur noch wenige Produkte zur Verfügung, bilanziert der SBV. Als Beispiel erwähnt er die schrumpfende Zahl der Insektizide. Er weist auch auf die steigende Gefahr von zunehmenden Resistenzen bei den Schädlingen hin: «Die Möglichkeiten für funktionierende Antiresistenzstrategien werden systematisch eingeschränkt. Aus Optik der pflanzlichen Produktion und der Ernährungssicherheit ist das verantwortungslos.»
Klein gewordener Werkzeugkasten
Wo immer man in letzter Zeit auf Ackerbauern oder Spezialkultur-Produzent(innen) trifft, geht es nie lange, bis das Thema auf den Plan kommt. Der Werkzeugkasten im Pflanzenschutz ist so klein geworden, dass der Anbau diverser Kulturen extrem erschwert bis verunmöglicht ist.
Das hält auch der SBV in seinem Lagebericht fest: «Parallel zu den rückläufigen Wirkstoffen nimmt die Anzahl von Kulturen mit fehlenden Schutzmöglichkeiten gegenüber einem bestimmten Schadorganismus, bei denen die Kulturen nicht mehr ausreichend geschützt werden können, zu.»
Die Notfallzulassungen nehmen stark zu
In der Folge steigen laut SBV die Notzulassungen an, um den Anbau gewisser Kulturen in der Schweiz weiterhin aufrechterhalten zu können. Allein im letzten Jahr wurden 58 Notfallzulassungen erteilt. Noch im Jahr 2018 waren es lediglich deren 15 gewesen.
Davon betroffen seien nebst zahlreichen Gemüsearten auch für die Ernährungssicherheit bedeutende Kulturen wie Kartoffeln (Drahtwurm) und Zuckerrüben (Grüne Blattlaus als Vektor der virösen Vergilbung). Und auch der Anbau von Raps funktioniert in weiten Teilen der Schweiz nur mithilfe von Sonderbewilligungen für die Bekämpfung gegen Erdflöhe und Stängelrüssler.
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Die acht Forderungen des SBV zum Pflanzenschutz
Der hier präsentierte Lagebericht des SBV zum Pflanzenschutz mündet in einer Reihe von Forderungen zu Pflanzenschutzmitteln (PSM). Wir geben sie hier verkürzt wieder:
Neuausrichtung des PSM-Monitorings: Dieses muss sich weg vom faktischen Reinheitsprinzip hin zu einem repräsentativen Monitoring nach Vorlage der Wasser-Rahmenrichtlinie der EU bewegen. Bei der Interpretation der Messergebnisse ist eine Güterabwägung vorzunehmen, welche im Minimum den Schutz der Kulturen mitberücksichtigt.
Indikator für Schutz der Kulturen: Der im Nationalen Aktionsplan Pflanzenschutz (NAP) vorgesehene Indikator für den Schutz der Kulturen muss bis Ende 2023 entwickelt und eingeführt sein. Weitere Massnahmen dürfen nur umgesetzt werden, wenn der Schutz der Kulturen gewährleistet bleibt.
Deblockierung des PSM-Zulassungsverfahrens: Aktuell stauen sich über 700 Gesuche bei den Zulassungsbehörden. Bis 2024 Umsetzung der Pa.Iv. 22.441 «Modernen Pflanzenschutz in der Schweiz ermöglichen».
Bericht: Der Bundesrat erstellt bis 2025 einen Bericht über getroffene und beschlossene Massnahmen im Bereich PSM. Er zeigt darin die Wirkung je Massnahme zur Reduktion von unerwünschten PSM-Einträgen in die Umwelt, ihre Effizienz und die Auswirkungen auf die pflanzliche Produktion auf. Bis zum Vorliegen des Berichtes dürfen keine weiteren Massnahmen beschlossen werden.
Umsetzung des 4. Paketes: Es ist zwingend zu berücksichtigen, dass die pflanzliche Produktion in der Schweiz nicht weiter eingeschränkt wird.
Gleiche Anforderungen an importierte Lebensmittel: Verbot des Imports oder Deklaration von Rohstoffen und/oder daraus erzeugten Produkten, wenn sie mit Hilfe von in der Schweiz verbotenen Wirkstoffen oder Praktiken erzeugt wurden.
Neue Verfahren: Die Schweiz ist offen für eine praxistaugliche Regulierung von neuen Pflanzenzüchtungsverfahren, wenn diese helfen, dass weniger PSM eingesetzt werden müssen.
Züchtungsoffensive: Der Bund steigert sein Engagement im Bereich der öffentlichen Züchtung nochmals deutlich.