Die Schweiz lernt auf der Stufe der Landesversorgung aus der Corona-Krise. Eine zentrale Erkenntnis: Im Fall einer Pandemie steigt auch die Nachfrage nach Hygiene-Mitteln sprunghaft an. Um einen solchen rapiden Anstieg künftig abzufedern und die Versorgung sicherzustellen, fasst der Bund den Aufbau eines Pflichtlagers für Ethanol ins Auge.
Politische Forderung
Das Szenario einer Ethanol-Knappheit wurde bereits Anfang Mai 2020 aufs politische Tapet gebracht. Nationalrätin Sophie Michaud Gignon (Grüne, VD) reichte dazu Anfang Mai 2020 beim Bundesrat eine Motion ein, in der sie diesen mit der Erstellung eines entsprechenden Lagers beauftragte. Mit der Privatisierung der Eidgenössischen Alkoholverwaltung zur Alcosuisse AG habe der Bund auch seine Lagerbestände verkauft und damit wichtige Ressourcen aus der Hand gegeben, so die Kritik der Waadtländerin.
Diese Lager seien keine Pflichtlager, entgegnete der Bundesrat. Das eingelagerte Ethanol diene der Alcosuisse dazu, Schwankungen auf dem Markt abzufedern und einen zeitnahen Vertrieb sicherzustellen. Die Motion von Sophie Michaud Gignon fand im Parlament entsprechenden Zuspruch und wurde im Herbst 2020 angenommen. Auch der Bundesrat anerkannte den Bedarf: Im Hinblick auf die Sicherstellung der Landesversorgung gelte es, ein Pflichtlager für Ethanol einzurichten. Die entsprechende Vernehmlassung wurde im März 2021 eröffnet und dauert noch bis zum 29. Juni. Die Inkraftsetzung sei auf Anfang 2022 geplant, schreibt der Bund.
Zunächst Zwischenlösung
Als befristete Übergangslösung bis zur Eröffnung des Pflichtlagers hat der Bund ein sogenanntes Sicherheitslager für Ethanol geschaffen; 6000 Tonnen Staats-Sprit lagern von März bis zum Jahresende bei Alcosuisse. Darauf hat das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) Zugriff, wenn sich die Versorgungslage wieder ändern sollte. Mit dem eingelagerten Ethanol kann der Bund den Bedarf in versorgungsrelevanten Bereichen wie Desinfektions- oder Arzneimittel während dreier Monate decken.
Produktionsanlage geplant
Bislang setzt die Schweiz auf importiertes Ethanol, lediglich in Ausnahmesituationen werde auf einheimischen Spiritus zurückgegriffen, schreibt das BWL auf seiner Website. Bald jedoch soll auch hierzulande im mittelgrossen Stil Ethanol produziert werden: Die Alcosuisse hat in Zusammenarbeit mit der Schweizer Zucker AG ein Verfahren ent-wickelt, um Ethanol aus Zuckerrüben herzustellen. In einer Medienmitteilung zeigen sich die beiden Unternehmen von ihrem Projekt überzeugt: Im Gegensatz zu importiertem Ethanol sei das einheimische Produkt zum einen von besserer Qualität und nachhaltiger produziert; zum anderen diene die einheimische Produktion der Versorgungssicherheit des Landes. Das Ende des vergleichsweise langwierigen politischen Prozesses wollen die beiden Unternehmen allerdings nicht abwarten: Guido Stäger, CEO der Schweizer Zucker AG, zeigt sich zuversichtlich, dass schon im Spätherbst 2021 wieder eine Produktionsanlage für Schweizer Ethanol in Betrieb genommen werden kann.
Auch Saatgut einlagern
Auch die Pflichtlager für Saatgut wurden in der jüngsten Vergangenheit aufgelöst. Angesichts der Internationalisierung und der Konzentration der Märkte ist der Bund aber nun zur Erkenntnis gelangt, dass die Schweizer Saatgut-Versorgung zu wenig krisenresistent sei. Besonders heikel präsentiert sich die Lage beim Saatgut für Raps, das momentan vollständig aus dem Ausland importiert werden muss. Ein zusätzliches Risiko für die Landesversorgung besteht darin, dass dieses importierte Saatgut von lediglich fünf Herstellern stammt. Um in Krisenzeiten künftig möglichst eigenständig agieren zu können, will das BWL deshalb ein Pflichtlager für Raps-Saatgut anlegen.
Der Verordnungsentwurf für die Wiedereinführung von Pflichtlagern für Raps-Saatgut befindet sich derzeit in der Vernehmlassung. Der Entwurf sieht vor, dass die Lager von jenen Marktteilnehmern angelegt und unterhalten werden müssten, die Raps-Saatgut für die Ölgewinnung importieren oder erstmalig einführen. Dabei würden die Lagerkosten gemäss der Prognose des Bundes wohl gering ausfallen, äussert sich das BWL auf Anfrage. Pro Kilogramm schätzt das Amt die Mehrkosten auf etwa 14 Rappen.
Was sind Pflichtlager?
Wie viele andere Staaten hält auch die Schweiz Notvorräte, um in Krisensituationen die Landesversorgung sicherzustellen. Dieses rechtliche System der Lagerhaltung wird als Pflichtlager bezeichnet. Verantwortlich für das Management dieser Lager ist das Bundesamt für Wirtschaftliche Landesversorgung (BWL).
Ihren Ursprung haben die Schweizer Pflichtlager in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als es galt, das knapp gewordene Getreide zunächst zu verwalten und zu verteilen und schliesslich Vorräte für kommende Krisen anzulegen. Im Jahre 1955 trat ein neues Bundesgesetz zur wirtschaftlichen Kriegsvorsorge in Kraft, das die Vorratshaltung durch die Wirtschaft ins Auge fasste. Eingelagert wurden diverse Dinge des täglichen Bedarfs, von Getreide und Saatgut über Seife bis hin zu Kakaopulver.
Während der folgenden Jahrzehnte zeigte sich, dass die Lagerhaltung zu einseitig auf Kriegsereignisse ausgerichtet war und den Entwicklungen der internationalen Landwirtschaft und der Warenmärkte zu wenig Rechnung trug. So rückten in den 80er Jahren Naturkatastrophen, Streiks oder Epidemien stärker in den Fokus als mögliche Bedrohungen für die Landesversorgung. Im geeinten Europa der 90er Jahre orientierte sich schliesslich auch die wirtschaftliche Landesversorgung neu. Die Lagerbestände wurden zunächst gesenkt und mit der Jahrtausendwende zu einem grossen Teil aufgegeben. Heute werden nur noch wichtige Produkte eingelagert, die hierzulande nicht oder nur in geringen Mengen produziert werden. Die Lager werden von der Privatwirtschaft gehalten, die dafür vom Bund entschädigt wird.