Wer an ein Archiv denkt, dem fällt vermutlich zuerst ein Keller mit mehreren Untergeschossen und meterlangen Gestellen mit Archivschachteln ein. Beim Besuch im Archiv für Agrargeschichte (AFA) in Bern bestätigt sich diese Vorstellung erst mal nicht. Es ist ein sogenannt virtuelles Archiv.

Nicht vor Ort aufbewahrt

«Virtuell heisst nicht, dass es uns physisch nicht gibt», sagt Historiker Peter Moser, der das AFA 2002 gründete. «Es heisst eigentlich nur, dass die Archivalien, die wir erschliessen, ordnen, strukturieren, verzeichnen und bewerten, in der Regel nicht bei uns aufbewahrt werden.» Meist werden sie von den sogenannten Aktenbildnern selbst oder von staatlichen Archiven aufbewahrt und der Forschung zugänglich gemacht.

200 Archive erschlossen

Das AFA fungiert einerseits als Forschungsinstitut für historische Fragen des ländlichen Raums. Auf der anderen Seite sichert es Archivbestände bei ländlichen und bäuerlichen Institutionen, zum Beispiel Genossenschaften, landwirtschaftlichen Schulen und landwirtschaftlichen Vereinen. Darunter sind auch Institutionen, deren Bedeutung durch den Wandel der Agrarpolitik des Bundes in den 1990er Jahren schwand und deren Archivbestände in Gefahr waren, verloren zu gehen.

In den letzten zwanzig Jahren hat das fünf bis sechs Personen umfassende Team rund 200 Archivbestände erschlossen. Einige bestanden nur zwei bis drei Schachteln Material, andere hingegen aus mehreren hundert Laufmetern.

Register mit 8000 Personen

Aus diesen Archivalien stammen auch viele Informationen im AFA-Onlinearchiv, in dem man Informationen zur beruflichen Tätigkeit von mehr als 8000 Personen und 450 Organisationen findet sowie ein Online-Filmarchiv, auf dem mehrere hundert Filme aus der Schweiz und vielen anderen europäischen Ländern konsultiert werden können.

«Auf unsere Personenregister bekommen wir viele Rückmeldungen. Manchmal sind das Enkel, die uns bitten, noch eine Angabe zu ihrem Grossvater zu ergänzen, oder Organisationen, die sich selbst darin gefunden haben», sagt Peter Moser.

Digitale Daten sind heikel

Das AFA denkt aber auch in die Zukunft: «Wenn wir Archive von Organisationen erschliessen, schauen wir mit ihnen zusammen auch an, wie sie heute ablegen – damit auch die künftige Archivierung Sinn macht», sagt der Leiter des AFA. Die Daten fielen früher ausschliesslich auf Papier an, seit Anfang der frühen 1990er Jahre auch in digitaler Form.

«Papier ist geduldig, praktisch zum Aufbewahren, braucht aber viel Platz». Elektronische Daten seien «weniger geduldig», weniger pflegeleicht, weil man sie immer wieder migrieren muss, damit sie auch in Zukunft genutzt werden können. «Die meisten Leute denken, wenn sie es auf dem Computer haben, sei es archiviert. Oft kann man jedoch Dateien schon nach einigen Jahren nicht mehr lesen.»

Randdasein gefristet

Lange Zeit fristete die Agrargeschichte in der Schweizer Geschichtsforschung ein Randdasein. Das störte Peter Moser, der selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, schon während seinem Studium. «Mir gefiel ausserdem nicht, wie in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft über das Agrarische geredet wurde: Sehr vereinfacht und klischiert.»

Er wollte einen Beitrag zu einem ausgewogeneren, der Komplexität der Landwirtschaft gerechter werdenden Diskurs leisten und griff deshalb agrargeschichtliche Themen in Büchern und Publikationen auf und gründete zusammen mit Archivaren und Historikerinnen das AFA als privates Institut. «Das war damals nur möglich, weil die richtigen Leute zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren.»

Eisenbahn verdrängte Pferde nicht

Seit der Gründung archivieren und forschen die Mitarbeitenden, publizieren Bücher und wissenschaftliche Artikel. Zurzeit laufen zwei Forschungsprojekte, eines zu Arbeitstieren und eines zu den Unterschieden zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Arbeit. «Bei den Arbeitstieren ist zum Beispiel interessant, dass die Eisenbahn nicht etwa, wie viele erwarten würden, die Pferde und Ochsen verdrängt haben. Lange Zeit existierten die Bahn und die Arbeitstiere parallel und ergänzten sich. Solche Fragen interessieren uns», erläutert Moser.

Keine öffentlichen Gelder

Für seine Forschungsprojekte ist das AFA auf Forschungsgelder des Schweizer Nationalfonds angewiesen. «Das ist ein sehr umkämpfter Topf, aber in den letzten Jahren waren wir mit unseren Bewerbungen oft erfolgreich.»

Öffentliche Gelder bekommt das AFA bis heute nicht. Ein entsprechender Antrag wurde vor ein paar Jahren abgelehnt, weil der Bund keine neuen Institutionen unterstützen wollte. «Damals haben mich viele Journalisten gefragt, ob wir jetzt aufhören müssen. Aber das mussten wir nicht, weil wir in dieser Hinsicht wie ein Bauernbetrieb funktionieren, der diversifiziert hat. Wir haben uns quasi nicht nur von den Direktzahlungen abhängig gemacht.»

Für seine Tätigkeiten im Dienste der Öffentlichkeit ist das AFA aber auf finanzielle Unterstützung durch Privatpersonen und Organisationen angewiesen. Deshalb müssen die Aktenbildner etwas für die Erschliessung ihrer Archive bezahlen, sofern sie dazu in der Lage sind. 2005 wurde zudem ein Förderverein gegründet.

International vernetzt

International ist das AFA gut vernetzt und arbeitet im Rahmen seiner Forschungsprojekte u. a. mit den Universitäten Bern und Freiburg, aber vor allem auch mit ausländischen Wissenschaftlern zusammen. «In anderen europäischen Ländern wurde die Agrargeschichte an den Universitäten weniger vernachlässigt als in der Schweiz», sagt Peter Moser.

Doch das habe sich mittlerweile auch in der Schweiz gebessert. Vor Jahren sei er an Tagungen oft der einzige Historiker mit einem Agrarthema gewesen, kürzlich seien an einer wichtigen Tagung zum Thema Arbeit gleich mehrere Beiträge mit einem direkten Bezug zur Landwirtschaft geleistet worden. Erfreulicherweise würden sich vor allem junge Leute wieder für das Thema interessieren.

«Wir werden es archivieren»

Für seine Pionierarbeit wurde das AFA 2014 geehrt. Die Deutsche Gesellschaft für Agrargeschichte zeichnete es mit dem Agrarkulturerbe-Preis aus. Peter Moser erinnert sich gerne daran zurück. In seiner Dankesrede sagte er in Anspielung auf die erhaltene Urkunde: «Wir werden das Dokument sicher archivieren. Wir haben Methoden, um es wieder zu finden.»