Die Berichte aus Deutschland beunruhigen: «Die Schilf-Glasflügelzikade und die damit verbundenen Krankheitserreger haben das Potenzial, Landwirte in existenzielle Bedrängnis zu bringen», ist etwa in einem Sonderdruck des Magazins «Sugar Industry International» zu lesen. Die Gratiszeitung «20 Minuten» titelte von einer drohenden Kartoffelkrise hierzulande. Wie schlimm ist die Situation?
Wenig Zucker, braune Knollen
«Es ist eine Bedrohung, aber es herrscht keine Untergangsstimmung», ordnet Andreas Keiser von der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) ein. Die Lage sei in der Schweiz anders als in Deutschland, das Problem lasse sich aber nur mit einem kulturübergreifenden Ansatz lösen. Wobei Keiser betont: «Es geht nicht darum, Angst zu machen. Sondern zu sagen, man kann noch etwas tun.»
Lange war die Schilf-Glasflügelzikade (SGFZ) vor allem bei Zuckerrüben ein Begriff. Das Insekt überträgt ein Bakterium (Arsenophonus), welches das Syndrome Basses Richesses (SBR) bei Rüben verursacht. Mit Arsenophonus infizierte Kartoffeln zeigen vermehrt schlechte Backtests, wie die Untersuchungen im Rahmen eines Projekts von HAFL und Agroscope in Zusammenarbeit mit der Kartoffelbranche und mit finanzieller Unterstützung des Bundesamts für Landwirtschaft ergaben. Die Bakterieninfektion erhöhte zwar die Wahrscheinlichkeit, dass sich Frites- und Chips-Kartoffeln bei der Verarbeitung verfärben. Die Präsenz von Arsenophonus führt aber soweit bekannt nicht immer zu diesen Problemen.
Hier keine Erreger-Kombination
Ein zweites, von der SGFZ übertragenes Pathogen ist das Stolbur-Phytoplasma. In Deutschland treten beide Erreger zusammen auf, verstärken sich und führen zu grösseren Schäden. «Arsenophonus ist in der Schweiz ein Problem und verursacht vom Westen bis etwa in den Kanton Solothurn Ertragseinbussen», schildert Andreas Keiser. Sowohl Ernteproben von Kartoffeln, Zuckerrüben und Gemüse als auch Zikadenfänge in der Schweiz zeigten jedoch nur sehr vereinzelte Infektionen mit Stolbur.
Da bisher nicht der in Deutschland verbreitete Krankheitskomplex auftritt, ist die Situation in der Schweiz weniger dramatisch. Und die Arbeit läuft, damit es hierzulande nie so weit kommt. Der Schlüssel scheint die Fruchtfolge zu sein – für Zuckerrüben und SBR, aber auch Kartoffeln mit schlechten Backtests oder Gemüse mit bakterieller Welke. Denn diese Krankheiten hängen alle mit der SGFZ zusammen, deren Nymphen im Boden überwintern. «Wir können die Zikade nicht ausrotten», stellt Andreas Keiser klar. «Aber mit dem Verzicht auf Winterweizen nach Zuckerrüben lässt sich die Population verringern beziehungsweise kleinhalten.» Das senkt den Druck, da weniger Nymphen den Winter überstehen. «Die beste Wirkung würde erzielt, wenn auch nach Kartoffeln kein Wintergetreide gesät würde. Das ist jedoch in der Praxis kaum umsetzbar», so Keiser. Studien hierzulande (regionales Fruchtfolgeprojekt in Chablais VD) wie auch Deutschland hätten die Wirkung angepasster Fruchtfolgen bewiesen. «Wir haben aktuell viele Anfragen von Landwirten, die dafür motiviert sind», berichtet er.
Ein Schwerpunkt des erwähnten Forschungsprojekts ist der Einfluss der Vorkultur und auf Zwischenkulturen, um unbedeckte Böden über den Winter trotz des Verzichts auf Winterweizen zu vermeiden.
Insektizid als Lösung?
In Deutschland gibt es Insektizid-Notfallzulassungen gegen die SGFZ für Tausende von Hektaren – sollte die Schweiz nachziehen? Versuche haben bewiesen, dass es schwierig ist, die Zikade mit Insektiziden zu bekämpfen und den richtigen Zeitpunkt dafür zu erwischen. Er verstehe, dass die deutschen Landwirte in den betroffenen Regionen Existenzängste hätten, sagt Andreas Keiser. In den oft sehr spezialisierten Ackerbaugebieten, wo meist nur Zuckerrüben gefolgt von zweimal Weizen auf den Feldern stünden, hätten die Landwirte oft kaum Alternativen. Trotzdem könne der grossflächige Insektizideinsatz in Deutschland mittels Notfallzulassung bestenfalls eine Übergangslösung sein, meint der HAFL-Forscher. Insektizide sollten aus seiner Sicht die absolute Notmassnahme sein. «Und sicher nicht würde ich hektarweise Kartoffeln und Rüben mit Pyrethroiden behandeln wollen.» Das wäre seiner Meinung nach verheerend angesichts der zahlreichen Nützlinge, die sich auch heuer in unbehandelten Beständen zeigen. Und wenn ein Insektizid, dann käme für Keiser allenfalls Acetamiprid infrage, «aber sehr gezielt und zum richtigen Zeitpunkt.»
Die HAFL arbeitet in diesem Jahr in Versuchen an acht Standorten daran, diesen Zeitpunkt zu finden. Der Fokus liegt aber eher auf der Stärkung der Kultur, damit sie den von der Zikade übertragenen bakteriellen Erregern trotzen kann. «Wir experimentieren mit biologischen Mitteln wie Brennnesselextrakt und einem Mittel aus Brasilien, auf der Basis von Humin- und Fulvosäuren», sagt Andreas Keiser. Dieses Mittel zeigt in Versuchen in Deutschland eine positive Wirkung. Dass nicht jede mit Arsenophonus infizierte Kartoffel durch den Backtest fällt, legt nahe, dass die Robustheit der Pflanze eine Rolle spielt.
Sorten werden getestet
Grosse Hoffnungen liegen auf der Sortenwahl. Innovator erwies sich bisher als robuster. Im Rahmen des Projektes wird Agroscope über dreissig Sorten in den Vorversuchen auf ihre Toleranz gegenüber Arsenophonus testen. Bisher seien keine Resistenzgene gegen das Bakterium bekannt, so Andreas Keiser. Wenn die Pflanzenzüchtung einen Beitrag leisten könne, dann vielleicht in Zukunft mit neuen Züchtungsmethoden (Genom-Editierung).
«Die Kartoffelbranche und die Forschung in der Schweiz haben schnell reagiert, und wir haben hoffentlich noch etwas Zeit, anders als in Deutschland», fasst Andreas Keiser zusammen. Bisher wurden in der Ostschweiz nur sehr wenige Pflanzen positiv für Arsenophonus getestet. Stolbur fand man in der ganzen Schweiz nur sehr vereinzelt und im Osten gab es wenig Zikadenfänge. «Wenn es dort gelingt, die Fruchtfolge ab diesem Herbst umzustellen, besteht die Chance, dass es so bleibt», schätzt der Forscher. Und dieselbe Massnahme würde in den bereits betroffenen Gebieten helfen, die Schäden tief zu halten.
Laufende Anpassung
Arsenophonus ist ein Pathogen, das die Leitbündel seiner Wirtspflanzen befällt. Es lässt sie absterben, was zu verfärbten Blättern und Welkesymptomen führt. Die Blockade der Gefässe verringert die Fähigkeit von Kartoffeln, Stärke in den Knollen zu speichern und führt zu einem höheren Zuckergehalt. Bei der Verarbeitung verbrennt dieser Zucker, das Resultat sind schlechte Backtests. Der gestörte Saftfluss löst bei Zuckerrüben hingegen tiefe Zuckergehalte in der Rübe aus (SBR). Gleichzeitig verändert Arsenophonus den Stoffwechsel seiner Wirtspflanze, die so etwa Aminosäuren oder Vitamine produziert. Das kommt der SGFZ zugute. «Dank Arsenophonus hat die Zikade einen grossen evolutionären Vorteil erhalten», erklärt Andreas Keiser. Für das Insekt ist das Pathogen ein Symbiont, der ihm eine Erweiterung des Wirtsspektrums von Schilf auf Zuckerrüben, Gemüse und Kartoffeln sowie eine starke Verbreitung ermöglichte. Es gibt Hinweise darauf, dass sich die SGFZ an weitere Nutzpflanzen anpasst.[IMG 2]