Immer im September wird es bäuerlich in Bern. Stattliche Herren im Chüejermutz, schön aufeputzte Kühe und volkstümliche Klänge verwandeln die Bundesstadt für eine Weile in ein Dorf, das im Emmental liegen könnte. «Sichlete» nennt sich der Anlass, für die Landwirte ist es eine Gelegenheit, ihre Arbeit und Lebensart dem Stadtvolk zu zeigen – und um Sympathie und Verständnis zu werben. Mit der Sichlete, wie sie einst Teil des bäuerlichen Arbeitsjahres war, hat der Event aber nicht viel gemein.

Vor der Industrialisierung wurde nämlich nicht in der fernen Stadt gefeiert, sondern auf dem eigenen Hof, und das nicht zu einem fixen Datum im Herbst, sondern eben dann, wenn die Arbeit auf den Getreidefeldern zu Ende war und die zahlreichen Helfer mit einem üppigen Mahl, Musik und Tanz belohnt wurden. «Vor etwa 150 Jahren zogen alljährlich zur Erntezeit Gruppen von 20 bis 30 Burschen und Mädchen aus den Bergen beim Spiele von Schwegelpfeife, Geige und Schalmei singend und jauchzend ins Unterland, um den Bauern das Korn zu schneiden», heisst es im 1940 erschienen Buch «Volksbräuche der Schweiz» des Publizisten Fritz Moser-Gossweiler. «Wenn die Ernte eingebracht war, wurde das Fest der Sichellöse gefeiert. Ganze Körbe voll duftender Küchli, würziger Krapfen und gewaltige Platten voll Fleisch sowie grosse Korbflaschen folgenlos standen auf grossen, runden Tischen in der Stube des Bauern für die Schnitter bereit. Bei Juchzen, Gesang und hellem Gläserklingen fassen sie bis in die Nacht hinein.»

Ernte mit der Sichel

Der Zürcher Volkskundler Ueli Gyr ist dem Ursprung der Sichlete in seiner 2016 erschienen Arbeit «Erntebrauch und Stadtereignis – Anmerkungen zur «Sichlete in Bern» nachgegangen. Als ältestes Zeugnis zitiert er einen Zürcher Brauch, den der Lehrer Heinrich Herzog schon 1884 beschrieb. «Die Feier des Ernteschlusses fällt in Mitte oder Ende des Juli; sie heisst ‹Sichellegi›, ‹Sichelhenki›, ‹Sichellösi›, – oder nach dem Vogel der Fruchtbarkeit und des Erntesegens, der ehemals dabei gefeiert und zugleich verschmaust wurde – ‹Krähhahne›», beobachtete er.

Geerntet wurde in der Schweiz bis zur Ankunft der Maschinen mit der Sichel, die Sense kam nur beim Heuen zum Einsatz. Grund dafür war, dass bei der Arbeit mit der Sichel weniger Körner verloren gingen, wie Anne-Marie Dubler im Historischen Lexikon der Schweiz erklärt. Nach damaligem Brauch fielen die am Boden liegen gebliebene Ähren den Armen zu, die das Feld ab Ende der Ernte zur Nachlese betreten durften. Die Armen traten auch beim Fest selbst in Erscheinung, wie Jeremias Gotthelf noch wusste: «Die Ernte ist dem Landmann eine wichtige Zeit, eine heilige Zeit, von ihrem Ertrage hängt sein Bestehen ab oder wenigstens sein Wohlergehen. Er erkennt dieses auch an, und als Zeichen dieser Erkenntnis richtet er am Schlusse der Ernte eine Art von Opfermahlzeit aus, er speiset Arme, speiset und tränket Knechte, Mägde, Tagelöhner, deren Weiber und Kinder und den Fremdling, der da wohnet innerhalb seiner Tore», heisst es in «Uli der Pächter».

Gelage und «Unzucht»

Die verköstigten Erntehelfer stammten oft nicht aus dem eigenen Dorf – sie kamen aus dem benachbarten Ausland oder aus den Schweizer Bergen, wo die Getreideernte aus naturräumlichen Gründen nicht denselben Stellenwert hatte wie im Unterland. Fernab der Heimat konnte es hoch zu und her gehen: «Wenn der letzte Heu- und Erntewagen mit einem Tännchen geschmückt heimkehrte, fand die sogenannte Rechen- respektive Sichellöse statt – mit einem grossen Gelage und ‹Unzucht›, wie die Geistlichkeit in früheren Jahrhunderten monierte. Die Schnitterinnen und Schnitter liessen sich den Spass dadurch nicht verderben, noch in einem Gesetz von 1845 war das Tanzen zur Sichellöse ausdrücklich erlaubt», berichtet die «Basellandschaftliche Zeitung» aus dem Oberbaselbiet.

Die Erntefeste im Herbst, zu denen mittlerweile neben kirchlichen Erntedankfeiern auch das Oktoberfest und Halloween gestossen sind, haben ihren Ursprung viel später – und weniger bei den Bauern selbst als beim Bürgertum und bei der Obrigkeit, die sich zunehmend für alle Lebenszusammenhänge zu interessieren begann.

Mäderlitag und Jakobi

Im 18. Jahrhundert legte König Friedrich II. von Preussen in seinem Reich erstmals einen offiziellen Termin fest – den Sonntag nach Michaeli (29. September). 1934 machte Adolf Hitler daraus einen öffentlichen Feiertag. Die Landwirtschaft war nicht mehr Ausdruck von Landschaft, Boden, Witterung – sie war nun Gegenstand der Regierungsmacht. Etwa zur gleichen Zeit schwappte der neue Erntedank-Brauch in die Schweiz über. Bei den Reformierten fand er etwas früher Anklang als bei der katholischen Kirche. Diese hatte das Landwirtschaftsjahr seit je mit Prozessionen und Segnungen begleitet, aber regional verschieden und stets im Einklang mit dem liturgischen Kalender.

In weiten Teilen der Deutschschweiz markierte dieser mit dem Mäderlitag (St. Medardus, 8. Juni) den Beginn der Heuernte und mit Jakobi (25. Juli) den Beginn der Getreideernte. Der Herbst war eher eine Zeit der Märkte, da die Landbevölkerung ihre Produkte in die Stadt brachte. Nur in den Weinbauregionen folgte ein «drittes Werk»: Das «Herbsten», das gemeinschaftliche Weinlesen, das wiederum mit seinen eigenen Bräuchen verbunden war.