«Man redet immer von den USA oder Kanada. Aber wo es richtig rauscht, ist in Brasilien.» Zu dieser Erkenntnis ist Bernhard Streit bei seinem zweimonatigen Aufenthalt in dem südamerikanischen Land gekommen. Es ist geprägt von Betrieben mit zum Teil Tausenden Hektaren Land und viel Innovationskraft. «Die Agrarpolitik ist in Brasilien schwach», begründet der Dozent für Pflanzenbau und Verfahrenstechnik an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL).

Wie es im Lehrbuch steht

Bernhard Streit hat das Ziel seines Sabbaticals unter dem Motto gewählt, eine andere Landwirtschaft zu sehen, «richtig anders». Das scheint gelungen zu sein. Und trotzdem ist er überzeugt, dass die Erfahrungen ihrer brasilianischen Berufskollegen auch für Schweizer Landwirt(innen) interessant und lehrreich sein können.[IMG 2]

Man könnte sagen, der grosse agrarpolitische Freiraum habe es den Brasilianern ermöglicht, das zu tun, was oft als «Vollgasproduktion» bezeichnet wird. Im Guten wie im Schlechten, denn es ist laut Bernhard Streit genau das eingetreten, was im Lehrbuch steht: Der häufige Einsatz von Pflanzenschutzmitteln (PSM) führte zu Resistenzen bei Schädlingen, Krankheiten und Unkraut. «PSM wurden dort in einem Mass eingesetzt, das mich sprachlos macht», bekräftigt Streit.

Als Insektizide und Fungizide wegen Resistenzen wirkungslos wurden, war es oft vorbei mit der Produktion hochwertiger Ware. Doch darauf ist Brasilien angewiesen, zumal ein Grossteil seiner Agrargüter exportiert wird. Ausserdem gebe es restriktive Kontrollen auf Rückstände, ergänzt der HAFL-Dozent. Vor allem China schütze auf diese Weise seinen eigenen Markt. «Das Risiko können die Betriebe nicht riskieren – es geht um ganze Schiffsladungen, die abgewiesen würden.»

Grosse Fläche, tropisches Klima
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Brasilien ist mit rund 850 Mio ha Fläche 200-mal so gross wie die Schweiz und weltweit das fünftgrösste Land. 31 Prozent oder 263 Millionen ha sind Landwirtschaftsflächen, Städte bedecken nur 4 Prozent des Landes. Es leben 220 Millionen Menschen in Brasilien, doch der weltweit grösste Exporteur von Agrargütern produziert Nahrung für rund 1,2 Milliarden Menschen.

Das Klima ist subtropisch bis tropisch mit einer je nach Region ausgeprägten Regen- und Trockenzeit. Die Böden beschreibt Bernhard Streit als in weiten Teilen nicht so fruchtbar. Sie zeichnen sich aus durch tiefen pH-Wert, viel Eisen- und Aluminiumoxid. Der rote Staub lege sich wie eine Patina auf alles, und der viele Regen habe über Jahrmillionen die Nährstoffe aus den Oxisolen ausgewaschen.

Eigene PSM-Produktion

Die Betriebe, die Bernhard Streit in Brasilien besucht hat, gehen heute einen anderen Weg. Sie setzen auf «Biologicals», also PSM auf biologischer Basis. Ihre Zulassung sei in dem südamerikanischen Staat vereinfacht und dauere weniger als zwei Jahre, sowohl die Nachfrage als auch die Entwicklung nähmen zu. Oft produzieren die Landwirtschaftsbetriebe diese Mittel selbst, passende Einrichtungen kann man als fertige Komplettlösungen in Form kleiner Gebäude kaufen. Darin werden zum Beispiel eine Art Trichogramma gegen Blattminierer gezüchtet oder ein Bodenbakterium gegen Botrytis.

Das erinnert an das Brauen von Komposttee, das auch hierzulande in regenerativen Kreisen praktiziert wird. «Im Gegensatz dazu wissen die Brasilianer aber ganz genau, was sie da vermehren und ausbringen», bemerkt Streit. Die Arbeit mit Biologicals sei aufwendiger, da es sich um lebende Organismen handele. Die erwähnten Bakterien zum Beispiel entfalten ihre Wirkung gegen Botrytis nur, wenn sie auf den Blättern der Kulturpflanzen einen Film bilden, der regelmässig erneuert werden muss. Die eingesetzte Spritztechnik beschreibt der Dozent als «topmodern». Häufig handelt es sich auch um Drohnen, die nachts fliegen.

Alles, was auf diesen brasilianischen Topbetrieben umgesetzt werde, geschehe zur Existenzsicherung, betont Streit. «Sie arbeiten nicht aus Freude biologisch, sondern weil es nicht mehr anders ging.» Dasselbe gilt für die Direktsaat, die allerdings seit Beginn des aufkommenden Ackerbaus praktiziert worden sei.

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«Es regnet praktisch jeden Tag, und wenn es regnet, dann in Strömen», beschreibt Streit seinen Aufenthalt in Brasilien Anfang Jahr. Innerhalb einer Stunde falle so 30–40 mm, «anschliessend scheint wieder die Sonne.» Das schwemme den feinen, roten Boden des Landes gnadenlos fort, wenn er nicht durch eine Pflanzendecke geschützt sei. Daher kämen alle Ackerkulturen in Brasilien als Direktsaat in den Boden, seit das Steppen- und Weideland in den 1970ern erstmals anders genutzt und planiert worden sei. Damals wurde die zuvor über Generationen verbreitete, sehr extensive Rindermast wegen eines Preiszerfalls unrentabel und viele Viehzüchter in der Folge zu Ackerbauern. «Die Forschung hat damals viel dafür gemacht, aber umgesetzt wurde es von den Bauern», meint Streit anerkennend.

Beitrag der Züchtung

Grosse Betriebe stellen eigene Agronomen als beratende Fachleute ein, es gibt aber auch einen florierenden Dienstleistungssektor mit landwirtschaftlichen Beratungszentren. Eine eigentliche Ausbildung zum Landwirt könne man in Brasilien nicht absolvieren, das sei eher eine Art Learning by Doing auf den Betrieben. «Dafür haben wir eine wahre Start-up-Kultur mit Innovationszentren gesehen», berichtet Bernhard Streit.

Neben den Entwicklungen in Kulturführung, Düngung und Pflanzenschutz leiste die Züchtung einen wichtigen Beitrag zum Erfolg des Ackerbaus in Brasilien. «So sind Sorten entstanden, die mit den suboptimalen Bedingungen zurechtkommen.» Sie gedeihen in den humusarmen Oxisolen mit tiefem pH und ermöglichen die Umsetzung einer Fruchtfolge – die allerdings sehr einfach ausfällt: In der Regel besteht sie aus Mais und Soja. «Der Mais musste züchterisch umgepolt werden wegen der Tageslänge, damit er im Winterhalbjahr wächst», erklärt Streit. Solche Sorten seien noch nicht allzu lange verfügbar.

Im brasilianischen Ackerbau ist aber nicht alles in Minne: Ein Grossteil des Sojas sei gentechnisch verändert und trage eine Herbizidresistenz. «Solche Gentech-Kulturen haben die grossflächige Umsetzung der Direktsaat damals ermöglicht», so Streit. Zu Beginn seien vor allem Bodenherbizide verfügbar gewesen, die bei Direktsaat ziemlich wirkungslos sind. «Glyphosat-resistente Kulturen erlaubten einen ökonomischen Anbau ohne flächige Bodenbearbeitung.»

Von der Verwendung sowohl herbizidresistenter Soja als auch ebensolchen Maises sei man zwar wieder etwas abgekommen. Bei der Soja sei der Anbau ohne Gentech aber heute wirtschaftlich fraglich. «Gentech ist nach wie vor ein wichtiger Teil des Ackerbaus Brasilien», fasst Streit zusammen.

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Zusammen statt riesig

Zu den Dimensionen gibt Bernhard Streit zu bedenken, dass die hiesigen Betriebe zwar deutlich kleiner seien. In Brasilien hätten sie einzeln genug Volumen für zumBeispiel eine eigene Verarbeitung, um ihre Wertschöpfung zu verbessern. «Aber in der Schweiz haben Genossenschaften Ähnliches bewirkt.» Leider gäben sich diese mittlerweile sehr grossen Genossenschaften als Handelsvertreter, und die Landwirte fühlten sich oft nicht mehr als Mitglieder. Aber es sei wieder ein Markt mit diversen Anbietern oder Abnehmern entstanden. «Es gibt nun für die einzelnen Betriebe die Möglichkeit, zum Beispiel zusammen mit Nachbarn gemeinsam grösser zu werden und dank überbetrieblicher Zusammenarbeit von Skaleneffekten zu profitieren», ist er überzeugt.


Was man von Brasilien lernen kann – und was in der Schweiz besser gemacht wird

Hierzulande ist die Ausgangslage sehr anders als in Brasilien, ist sich Bernhard Streit bewusst. «Das Wichtigste ist der im Vergleich sehr fruchtbare Boden bei uns, unsere Fruchtfolgen und der jährliche Frost.» Politisch sind Brasilien und die Schweiz kaum zu vergleichen, zumal das hiesige Direktzahlungssystem einen grossen Einfluss auf die Landwirtschaft hat. «Es wurde eingeführt, um die Preisunterschiede zu importierten Produkten auszugleichen», sagt Streit, «um die Konsumentenpreise zu senken, ohne dass das bäuerliche Einkommen einbrach.» Heute bestimmen ökologische Leistungen die Beiträge.

Ein paar Hundert Franken

Der Druck zur Innovation und für Kostensenkungen werde durch Direktzahlungen ausgebremst, beobachtet Bernhard Streit. Ein Unterschied von ein paar Hundert Franken Produktionskosten falle kaum ins Gewicht für die Gesamtrentabilität pro ha und somit eigentlich auch nicht der Unterschied zwischen konventionellen und biologischen PSM, Pflügen oder reduzierter Bodenbearbeitung. «Es ist nicht existenzsichernd, kostensenkend zu produzieren.» Das befeuere die Tendenz zur Freude an grossen Maschinen, die eigentlich zu gross seien. «Braucht man wirklich einen 150-PS-Traktor mit einer 3-m-Sämaschinen-Kombination für 20 ha?», fragt Streit.

Er gönne allen Bauern jeden Franken Direktzahlungen, «aber ich reibe mir die Augen, wie das Geld investiert wird». Streit erinnert auch an das gut belegte Gesetz des abnehmenden Grenzertrags, was die Düngung angeht. Es gehe um die «scheinbare N-Effizienz», um Kilo-Ertrag im Tank versus die Menge gestreuten Stickstoffs.

«Aber auch der Stickstoff ist in der Schweiz kein wirklicher Kostenfaktor.» Daher werde die N-Menge oft aufgrund von subjektiven Kriterien bestimmt und selten mit standortoptimierten Zahlen. Dafür, dass es hierzulande in der reduzierten Bodenbearbeitung und Direktsaat Pioniere gebe, sei die breite Umsetzung solcher schonenden Methoden bei uns «kläglich», findet er.

«Weil es Lösungen bietet»

Im Gegensatz zu jener Regenerativbewegung, die auch in der Schweiz Unterstützer hat, haben regenerative Ansätze für die brasilianischen Landwirte noch keinen Identifikationswert. «Man wendet sich dem zu, weil es Lösungen zu bestehenden Problemen und für fehlende Wirtschaftlichkeit bietet», sagt Bernhard Streit. Früher habe er sich eher darüber lustig gemacht, wenn jemand von einem Ferment behauptet habe, dass es wirke. «Heute denke ich anders darüber», meint Streit. Er erinnert aber auch an die Präzision, mit der in Brasilien «Biologicals» von den Bauern selbst hergestellt werden.

Es gibt indes einiges, was man nicht wie die Brasilianer machen sollte. Die Folgen des einseitigen PSM-Einsatzes hätten ideale Bilder zur Abschreckung für den Unterricht gegeben, meint Streit. Ein gutes Resistenzmanagement der verfügbaren Wirkstoffe sei da die zentrale Grösse, um derlei hier zu vermeiden. «Unsere geregelte Fruchtfolge mit zahlreichen unterschiedlichen Kulturen bringt ökologische sowie ökonomische Vorteile und senkt via Diversifizierung das Betriebsrisiko.»

Fazenda Santa Izabel – 11 000 ha Zuckerrohr
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Zur Zuckergewinnung wird in Brasilien Zuckerrohr produziert. «Dessen Verarbeitung zu Zucker ist weniger energieintensiv als bei Rüben, weil man das Rohr in einem ersten Schritt nur pressen und nicht auskochen muss», erklärt Bernhard Streit. Ausserdem ist Zuckerrohr eine C4-Pflanze wie Mais und eine mehrjährige Kultur, die nach sechs Ernten – also sechs Jahren – durch ein bis zwei Jahre Soja abgelöst werde. «Danach folgt wieder Zuckerrohr, aus Stecklingen gezogen.»

Die Fazenda Santa Izabel im Bundesstaat São Paulo umfasst fünf Betriebe mit insgesamt 22 000 ha Anbaufläche (11 000 ha Zuckerrohr, 10 000 ha Soja, zusätzliche Zweitkulturen auf 3500 ha). «Sie hat 384 Mitarbeitende, wovon 65 in der Administration tätig sind», so Bernhard Streit. Es sei der Züchtung zu verdanken, dass Zuckerrohr heute so lange immer wieder geerntet werden könne. Früher waren nur vier Ernten möglich.

Das Ernten geschehe mit dem Vollernter, fährt HAFL-Dozent Streit fort. Mit gutem Grund: «Die Blätter des Zuckerrohrs sind messerscharf und die Felder voller Schlangen und Skorpione.» Dank der Mechanisierung müsse das Rohr auch nicht mehr abgebrannt werden.

Fazenda Agricola Famosa – Halb Melonen, halb Kompost
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Das Hauptprodukt der Fazenda Agricola Famosa im Bundesstaat Rio Grande do Norte sind Melonen jeder Art. «Jede Woche werden 250 ha neu gepflanzt und die gleiche Fläche abgeerntet», so Bernhard Streit. Die Setzlinge produziert der Betrieb selbst, sie kommen unter Vlies in mit Plastik abgedeckte Dämme mit platziertem Kompost. Dieser stammt von 10 000 ha Gründüngungen – damit widmet diese Fazenda die Hälfte ihrer Fläche der Kompostproduktion. «Mit normalem Dünger haben die Betriebsleitenden die erforderliche hohe Qualität für den Export ihrer Melonen nicht mehr erreicht», begründet der HAFL-Dozent. Die Früchte gehen mit der betriebseigenen Schiffsflotte nach Europa und in die USA: «Jede Woche fährt ein Schiff nach Rotterdam.»

Die Gefahr für Rückstände von PSM, die auch in kleinen Mengen zur Abweisung einer ganzen Schiffsladung Melonen im Export führen könnten, sowie durch Resistenzen wirkungslos gewordene Insektizide und Fungizide brachte die Fazenda Agricola Famosa dazu, in den biologischen Pflanzenschutz zu investieren. Sie vermehrt heute natürliche Gegenspieler von Schädlingen und Krankheiten in einer eigenen Fermentationsanlage. Die Tröpfchenbewässerung mit Aqua4D-Technik zur Behandlung des salzigen Grundwassers verhindert ein Versalzen der Böden. Aqua4D ist eine Schweizer Entwicklung, bei der Resonanzfelder die Wassermoleküle verändern.

Die Betriebe von Ivan Ferretti – Sojasäcke für die Pacht
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Ivan Ferretti arbeite im «Wilden Westen» Brasiliens im Bundessstaat Goiàs, erzählt Bernhard Streit. Er verpachtet 300 ha Ackerland, die Pacht wird in Form von 20 Säcken Soja à 60 kg pro Jahr und ha bezahlt. «Das sind umgerechnet etwa 400 Franken jährlich.» Zur Ackerfläche kommen die 30 % Ausgleichsfläche, die von der brasilianischen Regierung vorgeschrieben werden. Sie bleiben unberührt in der Landschaft, dafür gebe es keinen geschützten Wald wie in der Schweiz. Die Flächen seien vernetzt durch Feldränder und Strukturen, die von den Landwirten stehen gelassen werden. «Das ist anders als etwa in den USA, wo der Acker erst an der Strasse endet.» Die Kontrolle der Ausgleichsfläche erfolge in Brasilien anhand von Satellitenbildern.

Passend zum «Wilden Westen» betreibt Ivan Ferretti auf seinen 1000 ha selbst bewirtschaftetem Weideland extensive Rinderhaltung mit 350 Zebu-Mutterkühen und Nachzucht. Dabei wird der Betriebsleiter von einem Cowboy unterstützt.

Fazenda Colorado – Milchproduktion in (sehr) Gross
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Der grösste Milchwirtschaftsbetrieb Brasiliens liegt im Bundesstaat São Paulo und hat eine durchschnittliche Tagesproduktion von 100 000 kg Milch. Die rund 2500 Holstein-Kühe werden in einem 70er-Melkkarussell gemolken. «Da herrscht absolute Ruhe im Stall, keine Hektik», schildert Bernhard Streit. Es werde allerdings relativ viel Kraftfutter eingesetzt, fünf selbstfahrende Futtermischer seien Tag und Nacht unterwegs. Die Fazenda Colorado vermarktet ihre Milch unter der eigenen Marke «Xando» und hat ein breites Sortiment aus eigener Verarbeitung mit unter anderem A2-Milch, laktosefreien oder Light-Produkten. In der Millionenstadt São Paulo gebe es sie überall zu kaufen, so Streit. Der Saft von 4500 ha Zitrusfrüchten kommt ebenfalls als «Xando» in die Regale, von den eigenen Flächen und aus der eigenen Saftfabrik.