Sie fällt nicht auf. Die Frau, die in einer blauen Daunenjacke durch die Tür des Genfer Hotels Warwick tritt, wirkt weder besonders gross noch muskulös oder selbstbewusst. Dabei ist das, was sie tut alles andere als alltäglich.

Sophie Lavaud ist «The 88 000 Lady». Die 51-jährige Westschweizerin hat im Himalaja bereits elf 8 000er-Gipfel bestiegen. Darunter den höchsten Berg der Welt, den Mount Everest, und den K2, der als der technisch schwierigste  8000er gilt. Da sie gleich drei Nationalitäten hat, ist Sophie Lavaud die erste Schweizerin, die erste Französin und die erste Kanadierin, die elf 8000er-Gipfel geschafft hat.

Aufgewachsen in Lausanne war Sophie Lavaud mit ihren Eltern viel in deren Chalet im französischen Skiort Argentière. «Ich lernte etwa gleichzeitig Ski fahren und laufen.» Klettern war kein Thema. Ihr Traum war, Balletttänzerin zu werden. Dafür trainiert sie über zwölf Jahre. Da der Vater bestand darauf, dass sie die Matura machte, begann sie neben der Schule eine Profi-Tanzausbildung.

Alles auf Anfang

Doch erst bremsten sie eine Blinddarmentzündung aus, dann starke Rückenschmerzen. Ein Jahr lang musste sie ein Korsett tragen und hatte absolutes Tanzverbot. Der Traum von der Ballett-Karriere war zu Ende. «Der Tanz war mein Leben und mein Leben hörte auf.»

Sophie Lavaud lernte stattdessen Sprachen und studierte in Lyon Betriebswirtschaft. Sie arbeitete unter anderem als Marketing-Direktorin eines Genfer Luxushotels und einer internationalen Kosmetik-Marke. Dann leitete sie mit ihrem Bruder eine eigene Firma, die auf alternative Investmentfonds und die Organisation von Wirtschaftskonferenzen spezialisiert war.

In der Krise etwas Neues gewagt

Im Nachgang der Wirtschaftskrise von 2008 ging das Unternehmen 2011 pleite. Die kinderlose Sophie Lavaud hatte plötzlich viel Zeit und etwas Geld. «Ich sass wie vor einem leeren Blatt Papier.» In den Jahren davor hatte sie die Freude am Klettern entdeckt. 2004 bestieg sie den höchsten Gipfel der Alpen. Dann kamen der Kilimandscharo und der Aconcagua, der höchste Berg Südamerikas. 2014 buchte sie eine organisierte Expedition zum Mount Everest und erreichte den Gipfel. «Der Everest, das war wie ein Marsch auf den Mond», versucht sie dieses Erlebnis später an einem Auftritt zu erklären. Sie wusste nun: Sie wollte professionelle Himalaja-Alpinistin werden.

Stures Beharren ist risikoreich

Seither hat sie jedes Jahr mindestens einen 8000er bestiegen, im Jahr 2019 waren es sogar drei. Dazu kommen die abgebrochenen Aufstiege. Beim Kangchenjunga klappte es erst beim dritten Anlauf. «Es braucht Demut am Berg. Und Geduld.» Stur darauf beharren, dass man am Tag X auf einem Gipfel steht, funktioniere nicht. «Es sind der Berg und das Wetter, die entscheiden, nicht wir. Da muss man sich anpassen, sonst geht man unnötige Gefahren ein.»

Für ihren Traum scheut Sophie Lavaud keine Strapazen. So verbrachte sie im Jahr 2017 107 Nächte auf über 5000 Metern bei Temperaturen bis Minus 30 Grad. Tagsüber wurde es dafür bis zu 50 Grad warm. Duschen? Ein Mal pro Monat.

Die Anstrengung beim Aufstieg ist enorm. Ab 7000 Metern schafft man nur gerade einen. Schritt. Alle. Drei Sekunden. Der Weg zum Gipfel kann auch mal 17 Stunden dauern, wie etwa beim Annapurna.

Harte Bedingungen

Rein technisch sei es im Himalaja oft nicht schwieriger als im Alpenraum, erklärt Sophie Lavaud. Anspruchsvoll würde es durch die Höhe und die extreme Kälte, die schweren Schuhe, die Maske und den Sauerstoffmangel. «Sauerstoffmangel schlägt schnell auf Hirn und man wird anfällig für Unfälle.»

Längst organisiert Sophie Lavaud ihre Expeditionen von A bis Z selbst und arbeitet dabei mit lokalen Anbietern zusammen. Sie ist immer mit dem gleichen Sherpa unterwegs, Dawa Sangay, und immer mit einer Gruppe. «Wir teilen uns die Infrastrukturkosten und es gibt zusätzliche Sicherheit.»

Interesse für Land und Menschen

Denn eine heldenhafte Superalpinistin will sie nicht sein. Weder reizen sie sogenannte Alleingänge noch sucht sie Höchstleistungen oder Ex-tremsituationen. «Es gibt genügend Performer unter den Himalaja-Alpinisten, die gerne im Rampenlicht stehen.» Auf die Frage, ob sie als Frau anders an das Thema herangehe, meint sie mit leisem Lächeln «Ja, das ist gut möglich.»

Ihr geht es um das Gesamterlebnis. Dazu gehören die Kontakte zur lokalen Bevölkerung, die Landschaft, die Dörfer, das Unterwegssein mit anderen Alpinisten. Zudem engagiert sich Sophie Lavaud für soziale Projekte in der Himalaja-Region. Sie ist ehrenamtliche Botschafterin des international tätigen Schweizer Hilfswerkes «terre des hommes» und hilft mit, Projekte wie «Prayaas» und «Blue School» bekannt zu machen.

«Prayaas» bildet unter anderem Hebammen in den lokalen Gesundheitszentren aus. «Das ist für die teils sehr jungen Schwangeren sehr wichtig.» «Blue School» baut sanitäre Anlagen in Schulen und vermittelt Schulkindern Hygienewissen und Umweltbewusstsein.

Jede Expedition an sich dauert rund zwei Monate. Doch die Organisation ist ein Ganzjahresjob. Dazu gehört auch die Suche nach Sponsoren. «Das wird immer schwieriger.» Obwohl es derzeit weltweit nur vier Frauen gibt, die alle vierzehn 8000er-Gipfel bestiegen haben. Doch viele Firmen wollen nicht in eine Risikosportart investieren, die keine olympische Disziplin ist, oder in Privatpersonen.

Vertrauen ins Team

Sophie Lavaud ist allerdings eine gefragte Referentin. An Konferenzen stellt sie regelmässig ihre These des «Followership» vor: Eine Führungspersönlichkeit, zum Beispiel in einer Organisation, kann ihr Ziel nicht ohne ein kompetentes Team erreichen. Dessen Fachkenntnisse müssen aber auch wertgeschätzt werden. «Am Himalaja käme ich allein nirgend hin. Ich brauche das Wissen der Sherpas, der spezialisierten Köche, des Meteorologen. Ich muss ihnen vertrauen können.»

Dieses Vertrauen verhindere auch, dass sie auf Expeditionen Angst habe oder von Zweifeln geplagt würde. «Angst blockiert. Und zweifele ich, mache ich nur halbe Sache.» Wichtig ist ihr zudem, jede Expedition mit «leerem Kopf» zu starten: Am Berg Probleme wälzen, das geht nicht. Alltagssorgen und Stress muss man daheim lassen können.

Sophie Lavauds Ziel ist klar: Sie will alle vierzehn 8000er-Gipfel besteigen. «Vor einigen Jahren war das noch ein ferner Traum. Der ist deutlich näher gerückt und ich habe immer noch Freude an den Expeditionen. Ich kann doch jetzt nicht aufhören, nachdem ich schon so weit gekommen bin, oder?»

Weitere Informationen:
www.sophielavaud.com