Es war eine Überrumpelungs-Aktion wie aus dem Bilderbuch: Vor acht Tagen präsentierten die SP-Ständeräte Christian Levrat und Roberto Zanetti der verdutzten Wirtschaftskommission des Ständerats (WAK-S) eine Vorlage, die sie vorher in dieser Form noch nie gesehen hatten. Dieser stimmte die WAK-S offenbar ungeachtet der Faktenlage mit 10 zu 1 Stimmen bei einer Enthaltung zu.
Minus 20 % bis 2030
Konkret geht es um drei Artikel aus der Agrarpolitik 2022+ (AP 22+). Diese enthalten als wichtigste Massnahme einen Absenkpfad für Nährstoffverluste wie folgt (gegenüber dem Mittelwert 2014–2016):
- Minus 10 % Stickstoff und Phosphor bis 2025 und
- Minus 20 % Stickstoff und Phosphor bis 2030.
Die drei Artikel 6a, 70a und 164a kamen aufgrund einer Intervention von Bundesrätin Simonetta Sommaruga erst nachträglich in die AP 22+ und waren deshalb nie in der Vernehmlassung.
Neu sind sie nun Bestandteil der Parlamentarischen Initiative (PaIv 19.475) der WAK-S, die ursprünglich nur der Risikoreduktion beim Pflanzenschutzmitteleinsatz dienen sollte, in dieser Form in Vernehmlassung war und allgemeine Zustimmung fand, auch beim Schweizer Bauernverband (SBV).
«Einkommen würden sinken»
In ihrer neuen Form wird dies aber nicht mehr der Fall sein, denn mit dem erweiterten Inhalt hätte die PaIv enorme Konsequenzen für die Landwirtschaft, wie SBV-Präsident Markus Ritter auf Anfrage erklärt. «Die Produktion würde deutlich zurückgehen, die Einkommen der Landwirtschaft würden sinken und der administrative Aufwand würde weiter ansteigen», so Ritter. Betriebe, die neu investiert haben, kämen massiv unter Druck.
Bund kommt nur auf 8,4 %
Die Auswirkungen des Absenkpfades Nährstoffverluste seien sehr einschneidend, fährt Ritter fort. «Es ist nicht klar, wie insbesondere beim Stickstoff die Verlustminderung um 20 % per 2030 erreicht werden soll», sagt er. Das Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) von Agrarminister Guy Parmelin liste im Zusatzbericht zur AP 22+ zu den Fragen der WAK-S vom 2. Juli Massnahmen auf, die lediglich zu einer Reduktion von 8,4% der Stickstoffverluste führen, so Ritter.
Es sei deshalb davon auszugehen, dass die angestrebten 20 % Absenkung beim Stickstoff nur über einen massiven Abbau der Tierbestände, in erster Linie der Rindviehbestände, zu erreichen sind. «Dies hätte enorme Konsequenzen auf die Selbstversorgung unseres Landes mit Lebensmitteln und die Einkommen der Landwirtschaft», sagt der SBV-Präsident.
«Keine Antworten vom BLW»
Der Absenkpfad für die Nährstoffe sei nicht durchdacht, so Markus Ritter weiter, «und auf konkrete Fragen an das BLW, wie denn dieser Absenkpfad umgesetzt werden könnte, erhält man keine Antworten».
Die WAK-S habe die drei Artikel ohne vertiefte Prüfung aus der AP 22+ entnommen und in die PaIv eingefügt, moniert er. Dabei hatte die WAK-S noch eine Woche zuvor beschlossen, die AP 22+ zu sistieren und mit einem Postulat die offenen Punkte, unter anderem den Absenkpfad für Nährstoffe, vertieft zu prüfen bzw. in Einklang mit einer Gesamtstrategie des Bundesrats zu bringen, welche unter anderem die AP zu einer umfassender gedachten Ernährungspolitik weiterentwickeln solle.
Kehrtwende in einer Woche
Umso erstaunlicher ist es, dass dieselbe Kommission nur eine Woche später quasi das Gegenteil beschliesst, und zwar mit einer Mehrheit, die an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig lässt. Das Resultat von 10 zu 1 mit einer Enthaltung kam in der WAK-S wie folgt zustande:
Neben den vier linksgrünen Mitgliedern Christian Levrat (Präsident), Roberto Zanetti, Paul Rechsteiner (SP) und Adèle Thorens (Grüne) stimmten sechs Bürgerliche für den erweiterten Absenkpfad: Stefan Engler (CVP), Erich Ettlin (CVP), Hannes Germann (SVP), Alex Kuprecht (SVP), Martin Schmid (FDP) und Hans Wicki (FDP).
Nosers Absenz hat Folgen
Erstaunlich ist die Zustimmung vor allem im Falle von Hannes Germann, seines Zeichens Präsident der Schweizer Gemüseproduzenten. Die Enthaltung kam von Pirmin Bischof (CVP) und die einzige Nein-Stimme von Peter Hegglin (CVP). Nicht im Saal war wegen eines Unfalls Ruedi Noser (FDP). Diese Absenz war offenbar mitentscheidend, denn Noser hatte eine Woche zuvor die Sistierungspläne ein- und erfolgreich durchgebracht. Nun scheint sein ordnender Einfluss gefehlt zu haben, was Levrat und Zanetti geschickt auszunutzen wussten.
Das letzte Wort ist in dieser Auseinandersetzung aber längst noch nicht gesprochen. Bereits am Montag startet die Herbstsession der eidgenössischen Räte und am Montag der zweiten Woche, dem 14. September, wird sich das Plenum des Ständerats mit der PaIv befassen. Es bleibt zu hoffen, dass die kleine Kammer ihrem Ruf als «Chambre de réflexion» («Studierstube») dann wieder besser gerecht wird, als die WAK-S mit ihrem Hüst und Hott der letzten Wochen.