Die Präsenz des Wolfs in der Schweiz ist ein hochemotionales Thema, das die Bevölkerung enorm polarisiert. Wenn über die kommende Abstimmung zur Revision des schweizerischen Jagdgesetzes debattiert wird, hat jeder und jede eine Meinung. Dabei eröffnet sich ein grosses Spektrum von fundierten und berechtigten Argumenten bis hin zu naiven und wenig sachdienlichen Hetzereien.
Mensch und Wolf: Ein Blick zurück
Eigentlich hat der Konflikt zwischen Mensch und Wolf hierzulande eine lange Geschichte. Mit der Ausbreitung der Siedlungsgebiete sowie der Nutztier- und Alpwirtschaft verschärfte sich dieser Konflikt zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert zunehmend. Durch grosse Abholzungen und eine ungeregelte Jagd verschwanden die natürlichen Beutetiere und es kam immer häufiger zu Wolfsrissen in Nutztierherden. Gerade arme Kleinbauernfamilien wurden dadurch unmittelbar in ihrer Existenz bedroht.
Eine schweizweite, gezielte Bejagung des Wolfs war die Folge dieser Entwicklungen. Schliesslich galt das Raubtier zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ausgerottet. Im Lauf des letzten Jahrhunderts wurden nur noch vereinzelte Sichtungen vermeldet und vier eingewanderte Wölfe abgeschossen. Der Wolf war zu einem eigentlichen Schreckgespenst geworden.
Im 21. Jahrhundert präsentiert sich die Situation anders: Nachdem über Jahre immer wieder Wölfe ins Land eingewandert waren, bildete sich ab 2012 in Graubünden das Calanda-Rudel, das erste Schweizer Wolfsrudel seit 150 Jahren. Von den einen mit Spannung und Faszination beobachtet, löste das Rudel bei ebenso vielen Unbehagen aus. Noch im Jahr 2012 wurden 114 Nutztiere gerissen, rund 90 Prozent aus Herden ohne Schutz. Das war Wasser auf die Mühlen der Wolfsfreunde, welche bald einmal mit dem Finger auf die Landwirte zeigten.
Der Wolf wird zum Politikum
Mit zunehmender Präsenz des Raubtiers wurde das Thema Wolf immer mehr zu einem Politikum. Während der Bund eher zögerlich Strategien und Herdenschutzkonzepte erarbeiten liess, nahmen einige unbesonnene Hitzköpfe die Sache undemokratisch selbst in die Hand. Mehrfach kam es zu illegalen Abschüssen. Diese Wilderei sorgte in der breiten Öffentlichkeit für Empörung und sabotierte dadurch alle gerechtfertigten Einwände gegen die sich entwickelnde Population. In den folgenden Jahren wuchs das Calanda-Rudel stetig. Doch nicht nur das Rudel erhielt im Lauf der Zeit Zuwachs: Zuhauf entstanden Vereinigungen und Interessensvertretungen für oder gegen den Wolf. Gleichzeitig wurden immer wieder Nutztiere gerissen, worauf die Behörden einzelne Wölfe zum Abschuss freigaben. Zwischenstand 2020: Hierzulande leben in acht bis neun Rudeln rund 80 Wölfe, die sich über den gesamten Alpenraum und bis hinein ins Mittelland ausgebreitet haben. In den vergangenen Sommern haben sich jeweils die Meldungen aus den Berggebieten über Risse von Schafen oder Ziegen gehäuft. Dieses Jahr sind viele Berichte über verängstigte Mutterkühe dazugekommen. Es scheint, dass sich die immer mutiger agierenden Wölfe mittlerweile auch an Grossvieh herantrauen. Immer wieder wird dabei offensichtlich, dass die getroffenen Herdenschutzmassnahmen nicht oder zu wenig gut greifen.
Gegenseitiges Unverständnis
Wer nach Angriffen die Bilder von gerissenen oder schwer verletzten Tieren sieht, kann die Ängste und den Zorn der Bergbauern und Älpler verstehen. Sie fühlen sich im Stich gelassen von einer Politik, die allzu oft nicht über die Städte oder das Mittelland hinausblicken mag und sich bei der finanziellen Unterstützung manches Mal schwertut. Und sie fühlen sich missverstanden von den «Städtern», welche die Bergwelt und die Landwirtschaft gerne verklärend als idyllische Welten sehen wollen und dabei die Realität ignorieren.
Womit sich manche Befürworter eines revidierten Jagdgesetzes allerdings keinen Gefallen tun, wird auf den Sozialen Medien ersichtlich: Wütende Kommentare, Beleidigungen und Beschimpfungen oder sogar die Androhung von Gewalt führen nicht zum Ziel; damit gewinnt man keine Sympathien und erst recht keine Abstimmung. Wenn sich dann sogar Politiker nicht entblöden, auf diesen Plattformen lauthals die Mär vom Kinder fressenden Wolf herumzuposaunen, dann sehe ich schwarz für einen konstruktiven Dialog, in dem sich zwei Seiten finden sollen. Denn darum geht es im Grunde: Wir sollen als Stimmvolk auf demokratischem Weg einen Kompromiss finden, der den Ansprüchen des Artenschutzes gerecht wird und gleichzeitig sicherstellt, dass weiterhin Berglandwirtschaft und Alpwirtschaft betrieben werden können.
Mögliche Folgen der Debatte
Das Schweizer Jagdgesetz hat bereits stolze 35 Jahre auf dem Buckel. Da ist es nachvollziehbar, dass ein solches Gesetz an die heutige Realität angepasst wird. Der Grossteil der Änderungen gibt keinerlei Anlass zu Diskussionen, während die Artikel, die den Wolf betreffen, das ganze Land zu spalten scheinen. Es muss möglich sein, auch ausserhalb der Parlamente vernünftig und anständig miteinander über diese Punkte zu sprechen. Dass diese Diskussion nicht oder nur sehr begrenzt funktioniert, zeigt, wo wir als Gesellschaft stehen.
Für gefährlicher als die Revision des Gesetzes oder die Zunahme der Wolfspopulation halte ich die gesellschaftlichen Gräben, die durch die andauernde Wolfsdebatte nur noch tiefer werden. Diese öffnen sich schliesslich nicht erst seit gestern zwischen Stadt und Land, zwischen Berg und Tal, zwischen Landwirtschaft und dem Rest der Bevölkerung.