Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mit Theorien zu Corona konfrontiert werden. Während die einen, nennen wir sie obrigkeitshörig, fast panisch die Ratschläge der Behörden befolgen, gibt es auch solche, die etwas entspannter damit umgehen. Am lautesten sind definitiv jene, welche die Massnahmen einen Plan gegen jegliches eigenständiges Denken bezeichnen.

Hinter diesen Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Corona sehen sie nur eines: Manipulation. Ihrer Meinung nach ist die Demokratie in grosser Gefahr. Um diesen Verlust des selbstständigen Handels und Denkens zu beweisen, bemühen sie Zitate von Immunologen, Historikern oder grossen Denkern. Zum Teil ist das Ganze auch esoterisch angehaucht. «Zehn Minuten für alle, die wirklich aufwachen wollen», so der Titel eines entsprechenden Beitrags. Ein anderer heisst: «Wenn das wirklich wahr ist …»

Vergleich mit Holocaust ist verwerflich

Man schreckt auch nicht davor ab, Vergleiche mit dem Holocaust zu ziehen, als viele Deutsche einem Irrsinn hinterherrannten und jeglichen Bezug zur Realität verloren haben. Mit grausamen Folgen. Es ist sicher angebracht, Parallelen zu suchen. Aber diesen Vergleich würde ich als pietätlos bezeichnen. Hierbei handelt es sich um nationalsozialistischen Völkermord an rund sechs Millionen europäischen Juden, die dafür ihr Leben liessen. Den Versuch einer Behörde, einen Balance-Akt zwischen Pandemie und Wirtschaft zu finden, mit solch einer grausamen Tat zu vergleichen, ist verwerflich.

Uns fehlt die Erfahrung

Auf dieser Suche nach Antworten, nach «richtig oder falsch», nach «mehr oder weniger» ist meiner Ansicht nach eine Erkenntnis entscheidend. Uns fehlt die Erfahrung. Wir können nicht googeln. Wir können nirgends nachlesen, wie der richtige Weg im Umgang mit Corona aussieht oder welches Verhalten jetzt angebracht wäre. So etwas hat es im modernen Europa schlicht und einfach noch nie gegeben. Es ist also an uns selbst, diese Erfahrung und damit auch Fehler zu machen. Es gibt noch kein Rezept. Und das ist schliesslich auch das, was diese Situation so bedrohlich macht.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick nach Afrika. Die Zahl der Corona-Fälle, insbesondere im Süden, explodierten anfänglich. Der Kontinent war komplett überfordert. Plötzlich sinkt nun die Zahl der neu gemeldeten Fälle und lässt die übrige Welt gespannt nach Afrika blicken. Es ist noch nicht genau bekannt, warum die Fallzahlen zurückgehen. Einige Dinge sind aber klar: Die Mobilität in diesen Ländern ist viel tiefer als im europäischen Raum. Und ganz entscheidend ist, Afrika hat Erfahrung. Vor fünf Jahren starben rund 11 000 Menschen am Ebola-Virus. Die betroffenen Länder haben mit Epidemien, verursacht durch Viren, Erfahrungen gemacht.

Zusammenleben mit dem Wolf

Auf der Suche nach Vergleichen, Parallelen oder vielleicht auch früheren Erfahrungen hat gerade die Schweizer Landwirtschaft derzeit diverse Schauplätze zu bieten. Da ist einmal der Wolf. Vor 100 Jahren hierzulande ausgerottet fehlt uns schlicht und einfach die Erfahrung im Zusammenleben mit ihm. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass er in direkter Konkurrenz mit dem Menschen um Lebensraum weichen musste.

Der Wunsch der Gesellschaft, wieder etwas näher zur Natur zu rücken, bringt Pläne aufs Tapet, wie jenen, solche Tiere, die hier einst heimisch waren, wieder anzusiedeln. Aber uns fehlt die Erfahrung im Zusammenleben mit dem Wolf. Und wenn auch irgendwo noch stehen würde, wie ein Leben mit dem Wolf damals war, es würde ganz bestimmt nicht mehr in die Gegenwart passen.

Bio funktioniert nicht immer

Das Rad hat sich gedreht, die Welt sich komplett gewandelt. Der Natur wieder etwas mehr Raum zu geben und damit Arten und eine Vielfalt zu schützen, lässt auch Ideen wachsen, wie Nahrung ohne Pflanzenschutz zu produzieren. Aber auch hier fehlt uns die Erfahrung. Es reicht nicht, auf die Bio-Betriebe zu schauen und zu sagen: « Es funktioniert ja.» Bio funktioniert nicht an jedem Standort, oder wenn, dann nur mit grossen Einbussen.

Uns fehlt die Erfahrung. Mit Corona, mit dem Wolf und mit einer Produktion gänzlich ohne Pflanzenschutz. Dass hier Ängste geschürt werden, ist nichts anderes, als verständlich. Diese Ängste sind auch zulässig. Und eine Diskussion zur Meinungsfindung und zum Erfahrung sammeln sinnvoll. Aber unabhängig davon, was man aufgrund der fehlenden Erfahrung als richtig oder falsch empfindet, man muss die Konsequenzen der Entscheide tragen, die in diesen Bereichen nun getroffen werden. Und die müssen sinnvollerweise aufgezeigt werden, sofern sie überhaupt erkennbar sind.