Bis auf ein paar wenige Viehausstellungen, deren Durchführung noch vor der grossen Corona-Welle stattfand, sind die Schauen heuer abgesagt. Frühlings-Beständeschauen, Zuchtfamilienschauen, ja auch die frühen Feldtests der jungen Schweizer Pferde fallen der Pandemie zum Opfer. Man ist sich einig: Damit fehlt etwas.
Zuchtziele sind Massstäbe
Nimmt die Zucht nun Schaden, weil ihre zahlreichen Schaufenster abgeblasen wurden? Und wenn ja, wie ist dieser Schaden zu beziffern? Eine Suche nach Antworten. Die Zucht verfolgt immer ein Zuchtziel. Zuchtziele sind Massstäbe. Sie helfen dem Züchter einer Rasse, sich zu orientieren und seine Arbeit seriös auszuführen. Diese Zuchtziele können je nach Tierart oder Rasse inhaltlich sehr unterschiedlich ausgearbeitet sein, was sie aber alle gemeinsam haben: Sie zeichnen vor dem inneren Auge des Züchters ein Tier, das den Wunschvorstellungen entspricht.
Anforderungen an Aussehen und Funktionalität
Aber wessen Wunschvorstellungen sind das genau? Bei einer Zucht auf Leistungsmerkmale, wie sie beim Rind, beim Pferd oder auch bei der Ziege über Jahre hinweg gefördert wurde, soll das Tier nicht nur schön, sondern auch funktionell, gesund und eben leistungsbereit ist. So soll beispielsweise ein Euter nicht nur entsprechend einem Modetrend gefallen, sondern auch die Kapazität haben, viel Milch zu produzieren und zu tragen. Im Optimalfall entspricht also dieses Zuchtziel nicht nur den Ansprüchen eines einzelnen Züchters, sondern den Anforderungen des Markts. Sonst stirbt eine Rasse sehr bald einmal aus, weil sie nicht mehr gefragt ist.
Schauen dienen der Überprüfung
Zur Überprüfung von Zuchtziel und Zuchtfortschritt sind Schauen entstanden. Während die Schweizer Pferdezüchter ihr Pferd meist nur im Fohlenalter und dreijährig am Feldtest beurteilen und kategorisieren lassen, gehen die Viehzüchter gerne mehrmals jährlich an Schauen oder Ausstellungen. Allerdings nur ein kleiner Teil von ihnen, während die Beurteilung der Pferde fast flächendeckend im ganzen Land stattfindet. An diesen Ausstellungen und Schauen wird das Tier durch geschulte Experten beurteilt. Er soll den züchterischen Wert des Tiers beschreiben und es zudem mit anderen, möglichst gleichaltrigen Tieren der Rasse vergleichen. Natürlich stets mit dem Zuchtziel vor Augen.
Man sucht nach Hinguckern
Das ist zumindest der Plan. Seit geraumer Zeit lässt sich aber eine Entwicklung beobachten, in der die Schere zwischen Markt und Zucht auseinandergeht. An Schauen sind sogenannte Hingucker gesucht. Dabei handelt es sich um Tiere, die sich in gewissen Merkmalen deutlich von anderen abheben. Von diesen einzelnen Merkmalen gibt es bei Kühen wie auch bei Pferden zahlreiche. Betrachten wir zwei, die immer wieder genannt werden. Bei der Kuh steht das Euter gerne im Vordergrund. An diesem ist ein starkes Zentralband erwünscht. Je stärker es ist, umso mehr Lob erhält es vom Richter an Schauen.
Schön, aber unpraktisch
Die Zucht hat sich in den vergangenen Jahren derart auf ein starkes Zentralband fixiert, dass heute kaum mehr eine Kuh an einer Ausstellung eine Zitze hat, die gerade nach unten zeigt. Nämlich dahin, wo auch die Milch laufen soll. Das Zentralband ist so stark geworden, dass die hinteren Zitzen auch beim vollen Euter noch zur Mitte gerichtet sind und meist auch nach hinten zeigen. Ein Merkmal, das als schön empfunden wird; dem Melker, und damit dem Markt, aber wenig Freude bereitet.
Schön, aber unbequem
Beim Pferd wird gerne der Gang ins Visier genommen. Züchter traben ihre Sprösslinge vor und je mehr das Tier seine Beine in Bewegung setzt, umso mehr gefällt es. Der Züchter ist stolz, der Freizeitreiter, der diese «Spinne» schliesslich gemütlich zum Ausreiten verwenden will, weniger. Das Pferd hat durch diesen übermässigen Gang zu viel Bewegung im Körper, der Reiter kann es nicht mehr sitzen, es wird unbequem.
Mehr gilt als besser
Heisst das, dass die Zuchtziele, die eigentlich an diesen Schauen überprüft werden sollen, gar nicht dem Markt entsprechen? Diese Frage ist mit einem Nein zu beantworten. Nein, aber … Aber, weil die Überprüfung dieser Zuchtziele durch die Schauen nicht mehr vollends gewährleistet ist. Während der Markt das alltagstaugliche Tier sucht, hat die Schau zunehmend ein Tier im Visier, das mit extremen Merkmalen den Sieg verspricht. Und je mehr, desto besser. Mehr Gang, mehr Schub, mehr Adel, mehr Zentralband, mehr Rippe. Das sind Eigenschaften, die im Zuchtziel eigentlich nicht verankert sind. Sie dominieren aber die Zucht unserer Nutz- und Haustiere.
Wem sollen Schauen dienen?
Das tun sie, weil Schauen schliesslich auch ein Wettbewerb sind und die Freude am Gewinnen dem Menschen bereits in die Wiege gelegt wurde. Nun fallen sie aus, diese Schauen. Ob sie im Herbst stattfinden können, ist noch nicht sicher. Zeit, um sie zu überdenken. Welche Aufgaben sollen diese «Zuchtprüfungen» erfüllen? Überprüfen sie das Zuchtziel oder dienen sie vielmehr einem Sport, der mit dem Alltag und dem Markt wenig zu tun hat?
Fehlen wird der gesellschaftliche Wert
Die Gründung neuer oder das Aufleben alter Rassen zeigt, der Markt sucht nicht nur ein extremes Zentralband oder ein Gangwunder-Pferd. Die neue Schweizer Kuh, die Urfreiberger oder auch Pro Specie Rara sind Organisationen, die sich vermehrt wieder der Normalität, und mit ihr wohl auch der Gesundheit einer Rasse verschreiben wollen. Die Welt dreht sich weiter. Und züchterischer Schaden wird kaum entstehen, auch wenn die Kühe diesen Frühling nicht an Schauen und Ausstellungen auflaufen. Was davon wirklich fehlt, hat vielmehr gesellschaftlichen Wert.