Auf fast 2200 m ü. M. ist die Vegetation karg. Es gibt struppiges Gras und viel Fels. Gute Bedingungen für die fast 500 Schafe und Ziegen. Einige stehen nahe beieinander in der Herde, andere haben sich etwas abgesondert und grasen weiter weg. Hirt Andrea Tuena (27) hat alle im Blick – oder zumindest eine Ahnung, wo sie sein könnten. Heute grasen sie beim Pozzo del Drago unterhalb des Palü-Gletschers im Puschlav.
Nachfolger des Lehrmeisters
Andrea Tuena ist gut zu Fuss. Muss er auch. Zwei Tage pro Woche steigt der Landwirt ins Gebiet nördlich der Alp Grüm im Puschlav. «Ich hüte abwechselnd mit meinem Kollegen Matteo aus dem italienischen Livigno die Herde», sagt der Schaf- und Ziegenhirt. Den Tieren gehe es gut: «Die Gegend unterhalb des Palü-Gletschers ist ideal.» Die Fläche ist immens. Für seine 450 Schafe sowie 35 Geissen, die zehn Bauern gehören, ist es hier wie im Paradies. Das muss auch so sein. Das Tierwohl steht bei Tuena und den Tierbesitzern an erster Stelle.
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Feldstecher und zwei Hunde
Der Bündner, der in San Carlo bei Poschiavo einen Hof mit 20 Hektaren Land bewirtschaftet, muss lange Wege gehen: Die Tiere stiegen bei der diesjährigen Sommerhitze immer höher, bis auf 2355 Meter beim steilen Sassal Mason. Zur Überwachung der Herde dienen ihm ein Feldstecher sowie seine beiden Hunde: «Ich habe meine Aussichtspunkte, sehe dann, wo sie weiden, und folge ihnen immer.»
Tuena ist seit dem Sommer als Berghirt und Landwirt mit rund 450 Schafen, 35 Ziegen, 2 Eseln und 2 Hunden mehrmals in der Woche unterwegs. Ihm gehören selbst 140 Mutterschafe, davon einige Engadinerschafe der Rasse Pro Specie Rara, 20 Ziegen und einige Esel. Seine Haupttätigkeit ist sein Hof. Matteo ist der zweite Schäfer. Tuena ersetzt seinen Lehrmeister und bekannten Wanderhirten Franco Vitali (66), der aus gesundheitlichen Gründen die Schäferei nach 32 Jahren (vorerst) abgeben musste.
Zwei Hirten- und Hütehunde
«Scia ven!» (Kommt!), ruft Andrea Tuena den Schafen in seinem Puschlaver Dialekt zu. Er hat eben auf verschiedenen Steinen im Gelände Salz gestreut, das seine Tiere gerne schlecken. «Landwirtschaftssalze ergänzen die natürliche, salzarme, pflanzliche Nahrung von Nutztieren», erklärt Tuena. Sie verhindern, dass Mängel auftreten, und halten die Schafe und Geissen gesund. Der 27-Jährige war schon mehrmals auf der Alp und kennt den Wanderhirten Franco Vitali seit fast zwanzig Jahren. Moreno Vitali, dessen Sohn, ist Landwirt in Brusio und Tuenas Chef. Er ist auch verantwortlich für die Tiere. Vitali ist Pächter, Alpmeister sowie Wirt der Alp Palü, die zur Gemeinde Poschiavo gehört.
Die beiden Hütehunde Fiori, ein schwarz-weisser Border Collie, und Jara, eine junge Bergamasker-Mischung, haben die Herde im Blick. Tuena dirigiert die Hunde mit einfachen lauten Kommandos auf Italienisch. Sie halten die Schafe auf der Fläche, die gerade beweidet werden soll. Die Hunde bellen kaum, sind ruhig, rennen aber bei Bedarf hin und her.
Mit dabei auch zwei Esel
«Wir bewegen uns täglich mehrere Kilometer», sagt Tuena. Mit dabei sind auch die beiden Esel Nina und Gina. Sie tragen beim Umzug die mobilen Zäune, Werkzeuge und das Essen für die Hunde auf ihren Rücken. «Sie fressen, bis der Pansen bzw. Vormagen voll ist. Dann beginnt das Wiederkäuen», erzählt der erfahrene Hirte auf der schmalen Strasse neben der Wiese. Von 12 bis etwa 14 Uhr gibt es eine Ruhepause. Stillstand kommt sonst nicht infrage. Die Tiere ziehen stetig weiter. Alles immer frisch, lautet die Devise. Momentan gibt es noch genug frisches Gras – Schnee liegt nur in hohen Berglagen. [IMG 3]
Schäfer auf Zeit
Die meisten Tiere folgen Andrea Tuenas Ruf, laufen mit ihrem zotteligen Fell auf ihn zu. Tuena war schon als Kind auf der Alp und verbrachte viel Zeit mit dem Hirten Franco Vitali, der im Winter bis in den Thurgau kam. «Tiere sind meine Leidenschaft», sagt Tuena. Er besitzt neben Schafen und Ziegen neuerdings Lamas für ein neues Herdenschutz-Versuchsprojekt. Sie haben es ihm besonders angetan. Er streichelt eine grosse, besonders zutrauliche Ziege. «Das ist Mara, die älteste Geiss, sie gehört Franco.» Dem freiheits- und tierliebenden Mann gefällt die Anstellung auf Zeit (bis im Oktober) bei Alpmeister Moreno Vitali.
Auch wenn seine Arbeit bescheiden entlöhnt wird, ist Tuena gerne Schäfer auf Zeit. Ein guter Hirte war in der Antike ein angesehener Beruf. Hirte war ein Beruf, der viel forderte: Mut und Tapferkeit, da man jeden Tag damit rechnen musste, gegen wilde Tiere kämpfen zu müssen. Denken wir nur an die Aufregung, die Wölfe oder Bären bei den Schafsbesitzern in der Schweiz verursachen. Man kann sich in etwa vorstellen, wie unsicher das Leben für Herden und Hirten zu Zeiten der Bibel in Israel war.
Bislang verlief der Alpsommer der Herde problemlos. Wurden ihm schon einmal Schafe gestohlen, Tiere von Wölfen gerissen oder durch den Verkehr verletzt? Hat er keine Angst vor Wölfen? «Nein», sagt Andrea Tuena. Alles laufe gut und er könne, abgesehen vom Gedanken an den Wolf, gut schlafen. «Bei uns taucht der Wolf einzeln auf, nicht im Rudel.» Im Juli sei hier in der Nähe, auf der Alp Somdoss, aber auch beim Belvedere bei der Alp Grüm, ein junges Kalb von Wölfen gerissen worden, so Tuena. «Bereits im März war einer morgens um acht in der Nähe meines Hofes aufgetaucht.» Vorsicht vor dem Wolf sei angesagt. Tuena: «Wir sind wachsam!»
«Wir bewegen uns täglich mehrere Kilometer.»
Andrea Tuena, Hirte auf der Alp Palü im Puschlav GR
Tägliche Tierkontrolle
Die Tiere, die Andrea Tuena hütet, leben tagsüber frei auf der Alp, die der Gemeinde Poschiavo gehört. Die Hälfte der Schafe und Ziegen sowie die beiden Esel tragen Glocken. «Damit man sie leichter wiederfindet», sagt der Hirte. Am Abend sammelt Tuena die Tiere wieder ein. Nach stundenlangem Fressen und dem scheinbar ziellosen Treiben strömen sie mit ihm gegen 19 Uhr zum Gatter des 50 × 50 m grossen Pferchs aus Flexinetzen, dem Ruheplatz. Die Raststätte ist mit einem elektrischen Herdenschutzzaun versehen und wird von den Hunden bewacht. In dieser weiten Bündner Berglandschaft, ganz nah am Himmel, wo die Mythen der Berge leben, zwischen Bären und Wölfen.
Morgens um 7 Uhr ist Andrea Tuena bei den Schafen. Er lässt sie aus dem Gehege, sucht nach Stellen, die noch nicht abgegrast sind. Hier oben können sie sich frei bewegen und gehen, wohin sie wollen. Allerdings war es in diesem Sommer auch auf der Alp Palü ziemlich warm. «Im August lagen sie viel herum, den Tieren war es auch zu heiss.» Der Hirte kontrolliert die Herde täglich sehr genau. Hinkt ein Tier, muss er möglicherweise gleich die Klauen pflegen, darüber hinaus wegen Krankheiten schauen. «Das habe ich alles von meinem Lehrmeister Franco gelernt», erzählt Tuena dankbar.
Beliebtes Fotosujet
Eine solche Sommerarbeit mit Hund und Herde steht bei Touristen für idyllische Romantik – ist aber harte Arbeit. Es kommen immer wieder Wanderer sowie Mountainbiker auf den Höhenwegen nahe der Alp Grüm vorbei. Andrea Tuena sagt: «Die Touristen stellen mir gerne Fragen und machen unzählige Fotos von der Herde.» Viele Feriengäste wollen wissen, wie die Situation mit dem Wolf aussieht, ob man Angst haben muss, wenn man hier unterwegs ist. «Es ist ein grosses Thema in Graubünden und in der Schweiz.» [IMG 4]
Tuena ist freundlich, realistisch, freiheits- und naturliebend, hat das Schmunzeln in seinen Augen. Er ist ruhig und gelassen, mit sich zufrieden im ewigen Kreislauf des Lebens und der Zeiten. In dieser grandiosen Landschaft, dem Himmel ganz nah. Im September wandert die Schafherde wieder zur tiefer gelegenen Alp Palü. Danach gehen die Tiere über das Val Varuna im Oktober ins Tal hinunter zu ihren Besitzern.