Jahrelang galt sie als unantastbar, die klassische Galtzeit von sechs bis acht Wochen. Doch immer mehr wissenschaftliche Daten und Praxiserfahrungen zeigen: Weniger kann mehr sein – zumindest, wenn es um die Galtzeit bei Milchkühen geht. Samuel Kohler von der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) hat im Rahmen mehrerer Studien und Bachelorarbeiten neue Erkenntnisse zusammengetragen, die das bisherige Dogma infrage stellen. Sein Fazit: «Eine verkürzte Galtzeit wirkt sich positiv auf die Fruchtbarkeit und andere wichtige Gesundheits- und Leistungsparameter aus.»

Rund 60 Tage galt

Die Galtzeit dient klassisch der Regeneration des Euters und der Vorbereitung auf die nächste Laktation. Üblicherweise beträgt sie in der Schweiz rund 50 bis 60 Tage. Doch Studien zeigen: je länger die Galtzeit, desto höher die Wahrscheinlichkeit für Fruchtbarkeitsprobleme in der Folgelaktation. Insbesondere nimmt der Erfolg der Erstbesamung ab und die Zahl der notwendigen Besamungen bis zur Trächtigkeit steigt.

Die Analyse von über einer halben Million Laktationen bei verschiedenen Rassen (Original Braunvieh, Brown Swiss, Holstein) zeigt eindeutig: Kürzere Galtzeiten korrelieren mit besseren Reproduktionskennzahlen. Auch die Bachelorarbeit von Yann Stadler unter der Leitung von Samuel Kohler bestätigt dies – ebenso wie Daten aus einer umfassenden Analyse von fast 100 000 Holsteinkühen.

Weniger Stoffwechselprobleme

Nicht nur die Fruchtbarkeit profitiert, auch die Tiergesundheit scheint durch kürzere Galtzeiten stabiler zu sein. So treten Stoffwechselstörungen wie Ketose oder Labmagenverlagerung seltener auf. Diese Erkrankungen belasten nicht nur das Tier, sondern auch das Portemonnaie: Eine Labmagenverlagerung verursacht beispielsweise durchschnittliche Kosten von 1690 Franken, eine chronische Mastitis 614 Franken (siehe Kasten rechts).[IMG 2]

Weniger Galtzeit bedeutet auch weniger Stoffwechselstress rund um die Kalbung. Studien aus dem Ausland, wie die Meta-Analyse von van Knegsel et al. (Wageningen University), zeigen, dass eine kürzere oder ganz ausgelassene Galtzeit die Energieversorgung der Kuh verbessert und das Risiko für Erkrankungen reduziert – ohne nennenswerte Nachteile bei der Milchqualität. Denn Kohler mahnt: «Die meisten Störungen ereignen sich in der Startphase der Laktation.»

Kolostrum bleibt stabil

Ein häufiges Argument gegen kürzere Galtzeiten ist die Sorge um die Qualität des Kolostrums. Doch auch hier gibt es Entwarnung: Die entscheidenden Immunstoffe gelangen ab etwa sechs Tagen vor der Kalbung ins Euter – und zwar ganz unabhängig davon, ob die Kuh zuvor galt stand oder weiter gemolken wurde.

In Bezug auf die Milchleistung zeigt sich: «Ja, sie kann bei kürzeren Galtzeiten leicht abnehmen – aber der Verlust wird durch bessere Tiergesundheit, weniger Fruchtbarkeitsstörungen und eine stabilere Leistungskurve mehr als ausgeglichen», erklärt Samuel Kohler. Er spricht sich nicht pauschal gegen die Galtzeit aus – aber für eine differenzierte Betrachtung:

  • Nach der 2. und folgenden Laktationen: Für Mehrlaktierende empfiehlt er eine Galtzeit von rund 30 Tagen. Diese Länge zeigt in der Praxis das beste Verhältnis zwischen Eutergesundheit, Fruchtbarkeit und metabolischer Stabilität.
  • Nach der 1. Laktation: Für Erstkalbinnen sollte hingegen weiterhin eine Galtzeit von mindestens sechs Wochen eingehalten werden, da die junge Kuh in dieser Phase meist auch noch wächst.