In letzter Sekunde macht der Storch einen staksigen Schritt zur Seite und weicht dem Traktor aus. Die grossen Vögel versammeln sich derzeit dort, wo gemäht oder geackert wird, und es scheinen auffallend viele zu sein. «Das ist nicht verwunderlich», erklärt Thorsten Wiegers von der Vogelwarte Sempach.
Je nach Jahreszeit
Laut dem Fachmann sind im Moment die Jungstörche unterwegs, die ihr Nest verlassen haben. Zusammen mit den ersten Tieren, die bereits auf dem Vogelzug sind, kommt eine grössere Menge Störche zusammen, als im Frühjahr zu beobachten ist. Durch Verluste auf dem Zug und während des Winters ist der Bestand Anfang Jahr kleiner.
Insekten, Regenwürmer, Amphibien und Kleinsäuger wie Mäuse stehen auf dem Speiseplan der Weissstörche, weshalb sie Mähmaschinen und Feldarbeiten wie magisch anziehen: Da werden Insekten aufgescheucht und Mäusegänge freigelegt.
Zu wenig Lebensraum
Dass es hierzulande Weissstörche gibt, ist keine Selbstverständlichkeit. «Um 1950 war die Art in der Schweiz ausgestorben», berichtet Thorsten Wiegers. Der Hauptgrund sei vermutlich fehlender Lebensraum gewesen, da in dieser Zeit im grossen Stil Feuchtwiesen trockengelegt worden sind. Es mangelte den Vögeln an Nahrung, um ihre Brut aufzuziehen.
Jetzt erholt sich der Bestand deutlich, wie der Brutbestandsindex der Vogelwarte zeigt. Einen wichtigen Beitrag dazu leisteten verschiedene Wiederansiedlungsprojekte mit Aufzuchtstationen. «Jede zusätzliche Art in einem Ökosystem trägt zu dessen Stabilität bei», gibt Thorsten Wiegers zu bedenken.
Hilfreich gegen Mäuse
Die Sorge, die vielen Störche auf den Feldern könnten die Insekten allzu sehr dezimieren, teilt Wiegers nicht. Im Übrigen ist der Weissstorch ein Kulturfolger und Opportunist, der sich dem Leben in der Nachbarschaft des Menschen angepasst hat: Er errichtet Horste auf Hausdächern und nutzt in seinem spanischen Winterquartier offene Abfallhalden als Futterquelle. Allerdings bleiben immer mehr Störche dank der milden Winter in der Schweiz. In der kalten Jahreszeit fressen sie, was sie finden – z. B. Mäuse, was Landwirt(innen) entgegenkommt.
Weissstörche sind in der Schweiz geschützt, gelten – trotz der Zunahme des Bestands – als potenziell gefährdet und sind eine Prioritätsart für die Artenförderung. Rücksicht ist also angebracht, auch wenn die Stelzvögel ungerührt in Traktornähe stehen bleiben. «Ein gesundes Tier sollte die Gefahr aber richtig einschätzen und rechtzeitig reagieren können», ergänzt Thorsten Wiegers. Dass ein Storch bei der Landbewirtschaftung verletzt worden ist, habe er jedenfalls noch nie gehört. Was bis zu einem gewissen Grad sicher auch der berechtigten Rücksicht der Person hinter dem Steuer geschuldet sein dürfte.