Wer ein Kalb an seiner Mutter saugen liess und gleichzeitig Verkehrsmilch produzierte, verstiess gegen das Schweizer Verordnungsrecht. Da die Nachfrage nach Milch aus der muttergebundenen Kälberaufzucht aber gestiegen ist und
die Politik sich darum bemüht hat, änderte sich die rechtliche Lage nun: Seit dem 1. Juli 2020 darf Milch aus mutter- und ammengebundener Kälberaufzucht offiziell weiterverarbeitet werden. Die BauernZeitung war mit Evelyn Scheidegger, der Präsidentin des Cowpassion-Vereins im Gespräch. Die Bäuerin und ihr Mann Stefan Scheidegger betreiben einen Milchviehbetrieb mit 19 Swiss-Fleckvieh-Kühen und praktizieren seit 2017 muttergebundene Kälberaufzucht.
Sie geniessen momentan eine ziemliche mediale Aufmerksamkeit. Bereits 2018 gründeten Sie den Verein Cowpassion. Wofür setzt er sich ein?
Evelyn Scheidegger: Der Verein umfasst Mitglieder aller Berufsrichtungen und hat das Ziel, sich für die muttergebundene Kälberaufzucht (MuKa) einzusetzen und diese zu fördern. Der Verein hat einen Produzentenrat eingesetzt, welcher den Milchpreis bestimmt. Dieser soll vollkostendeckend sein und wurde auf Fr. 1.20/l fest-
gelegt.
- Zusammen mit dem Tierschutz-Kompetenzzentrum Kompanima bieten wir Unterstützung und Kurse für Betriebe an, welche auf MuKa umstellen möchten.
- Auf unserer Website beantworten wir Fragen mit wissenschaftlichen Fakten und bieten eine Plattform zum Austausch von Erfahrungen.
- Zudem machen wir MuKa-Milchprodukte für die Konsument(innen) verfügbar.
Gibt es in der Schweiz noch andere Vereine, die die muttergebundene Kälberaufzucht im Visier haben?
In der Schweiz sind uns keine weiteren Vereine bekannt, die MuKa fördern. Im Ausland gibt es verschiedene Initiativen zur Förderung dieser Betriebsweise. In Deutschland vermarkten die «Ökomelkburen» ihre Milch aus der MuKa bereits erfolgreich im Handel. In Grossbritannien gibt es ebenfalls Zusammenschlüsse solcher Betriebe.
Welche Labels gibt es bisher in der Schweiz, die Produkte der muttergebundenen Kälberaufzucht auszeichnen?
Nebst der Marke Cowpassion und Bio-Naturmilch des Biobetriebs Grossegg sind uns in der Schweiz keine Labels zur Auslobung von MuKa bekannt.
Sind es vor allem Bio- und Demeter-Betriebe, die zur muttergebundenen Kälberaufzucht tendieren?
Da erst sehr wenig Betriebe MuKa praktizieren, lässt sich noch keine Tendenz feststellen. Cowpassion als Marke beinhaltet allerdings die Anforderung, dass die Bio-Verordnung des Bundes eingehalten werden muss.
Werden Produkte aus muttergebundener Kälberaufzucht vorwiegend direktvermarktet oder fliessen auch einige Produkte in den Detailhandel?
Cowpassion-Betriebe vermarkten ihre Produkte häufig über den Hofladen. Der Cowpassion-Käse wird ausschliesslich via Versand direktvermarktet. In Deutschland fliessen bereits vereinzelte Produkte in den Detailhandel. Die Projekte aus Grossbritannien und Neuseeland setzen bisher auf Direktvermarktung durch Versand.
Wo sehen Sie die Schwierigkeiten der Muttergebundenen Kälberaufzucht?
Aus unserer Sicht ist MuKa eine Riesenchance für die Schweizer Landwirtschaft, ihre Rolle als Qualitätsführerin zu bestätigen. Eine Schwierigkeit mag sein, dass MuKa heute für viele Produzent(innen) noch fremd wirkt. Eine Schwierigkeit in der Praxis ist, dass die Anforderungen der MuKa beim Stallbau meist nicht berücksichtigt wurden und der Stall somit nicht optimale Voraussetzungen dafür bietet. Wenn beispielsweise die Kälber in einem anderen Bereich angesiedelt sind als die Kühe, macht es das Zusammenbringen von Kuh und Kalb für das Saugen aufwendiger.
Strebt der Verein auch an, mehr Milchviehbetriebe zur muttergebundenen Kälberaufzucht zu motivieren?
Wir möchten keine Betriebe animieren – das Interesse muss vom Betrieb her kommen. Denn die Umstellung ist anspruchsvoll und erfordert Durchhaltevermögen und Überzeugung.
Wie macht man die reduzierte abgelieferte Milchmenge wett?
Im Vergleich zu der Eimertränke trinkt das Kalb beim Saugen mehr Milch. Dadurch geht die Milchmenge im Tank klar zurück, was sich aber mit dem höheren Milchpreis kompensiert.
Muss man mit höheren Zellzahlen oder veränderten Fettgehalten der Milch rechnen?
Wenn das Kalb nach dem Melken saugt, kann ein tieferer Fettgehalt in der abgelieferten Milch der Kuh resultieren. Aber bezüglich Zellzahl hatten wir auf unserem Betrieb keine Veränderung mit der Einführung der muttergebundenen Kälberaufzucht.
Zum Absetzen der Kälber ist es wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Eine Trennung nach fünf Monaten ist viel einfacher als nach drei Wochen oder wenigen Tagen. Bei der MuKa saugen die Kälber mindestens während drei Monaten bei ihrer Mutter. Für das Absetzen hat sich ein schrittweises Vorgehen bewährt.
Sie halten Swiss Fleckvieh. Eignet sich jede Rasse für diese Betriebsform?
Ich denke, dass MuKa mit allen Rassen funktionieren kann. Es gibt unterschiedliche MuKa-Methoden. Die restriktive eignet sich auch für Hochleistungsrassen. Wir hatten zu Beginn auch noch einzelne RH-Kühe in der Herde und auch mit diesen hat das gut funktioniert. Dies, weil zuerst gemolken wird und das Kalb dann lediglich die Restmenge trinkt. So wird das Euter nicht zu stark strapaziert.
Warum denken Sie, gibt es nur vereinzelte muttergebundene Kälberaufzuchtsbetriebe?
Die Meinung ist immer noch verbreitet, dass MuKa verboten sei. Die rechtliche Lage wurde am 1. Juli 2020 dank der Annahme und Umsetzung der Motion Munz (18.3849) definitiv geklärt. Kälber bei ihrer Mutter saugen zu lassen, ist nun auch in der Milchproduktion erlaubt. Zu guter Letzt bedeutet die Umstellung auf MuKa eine grosse Herausforderung, welche möglicherweise gar bauliche Massnahmen erfordert. Die MuKa ermöglicht aber auch die Erschliessung neuer Märkte und somit Wertschöpfung – dies ermutigt auch viele Betriebe, sich das Ganze einmal genauer anzuschauen.
Videos über Betriebe, welche bereits Praxiserfahrungen mit der muttergebundenen Kälberaufzucht gemacht haben, finden Sie hier.