Seit dem 11. Oktober reisst ein Wolf in der Region Gantrisch alle paar Tage Nutztiere. Auffällig ist, dass die Risse immer in der Nähe von Siedlungen stattfinden und dass er sich auf Nutztiere spezialisiert hat. Auch wurde das Raubtier schon mehrfach von Menschen gesichtet und dabei zeigte er wenig Scheu. Der Unmut unter den Kleinviehhaltern ist gross und im Internet wird mittlerweile offen zu Selbstjustiz aufgerufen. Anfang November gab der Kanton Bern bekannt, das Tier solle vergrämt werden. Die BauernZeitung hat beim Jagdinspektor des Kantons Bern, Niklaus Blatter nachgefragt, wie er den Wolf beurteilt und was er den Haltern von Weidetieren rät.

Ist es wirklich nur ein einzelner Wolf, der seit dem 11. Oktober all diese Tiere gerissen hat?

Niklaus Blatter: Es liegen noch nicht alle DNA-Proben vor, darum kann diese Frage nicht beantwortet werden. Bisher haben wir nur Hinweise auf einen Wolf italienischer Abstammung.

Warum reisst er dermassen viele Tiere und macht so oft Beute? Warum tötet er mehr als er fressen kann?

Das Verhalten ist nicht per se unnatürlich. Diese Frage kann das Kora als Expertenstelle für Grossraubtiere viel besser beantworten als wir.

Beim ersten Riss in Toffen tötete er die Schafe mit einem gezielten Kehlbiss, beim letzten Riss in Thierachern verletzte er hingegen viele Schafe ohne sie zu töten. Wie erklären Sie sich sein verändertes Jagdverhalten?

Diese Frage lässt sich so nicht beantworten. Es kam immer wieder vor, dass er Schafe nur verletzt hat.

Wie erklären Sie sich, dass dieses Tier vor dem 11. Oktober nie auffällig war?

Der Wolf ist wahrscheinlich erst seit diesem Herbst in der Region.

Warum reisst der Wolf in der Nähe von Siedlungen, obwohl er momentan eine grosse Auswahl von abgelegeneren Beutetieren hätte?

Der Wolf scheint sich leider auf ungenügend geschützte Nutztiere spezialisiert zu haben. Diese findet er gegenwärtig vor allem in der Nähe von Siedlungen. Der Wolf folgt seiner Beute.

Im Netz kursieren Bilder und Videos von diesem Wolf, die zeigen, er hat kaum Scheu vor dem Menschen. Inwieweit lässt sich eine Gefahr für Menschen ausschliessen? 

Wir bewerten das Verhalten des Wolfes grundsätzlich nicht als gefährlich. Einige Situation lassen aber auf mangelnde Scheu gegenüber Menschen schliessen.

Dieser Wolf ist es gewohnt, in der Nähe des Menschen Nahrung zu finden. Was passiert im Winter, wenn alle Schafe im Stall sind?

Das ist eine hypothetische Frage, die wir nicht beantworten können.

Wie viele DNA-Proben wurden genommen, wie viele sind ausgewertet? Was sagen diese über den Wolf aus?

Bei allen 15 Vorfällen wurden DNA-Proben genommen. Unser Referenzlabor aus Lausanne hat eine erste DNA -Probe ausgewertet. Es ist ein Wolf mit italienischer Abstammung. Die Individualanalyse steht aber noch aus. Das heisst, es kann noch nicht gesagt werden, ob dieser Wolf bereits einmal in der Schweiz war oder neu zugewandert ist. Aufgrund der bisherigen Sichtungen geht das Jagdinspektorat momentan von einem Wolf aus. Weitere DNA Proben werden derzeit ausgewertet.

Tierhalter müssen immer wieder den Vorwurf hören, dass sie ihre Tiere zu wenig gut schützen. Wie sieht der richtige Schutz auf der klassischen, mobilen Herbstweide im Mittelland aus?

Als geschützt gilt:

Herdenschutzhunde: Wenn die Tiere durch offizielle (vom Bund anerkannte und geförderte) Herdenschutzhunde begleitet werden.

Oder:

 Zäune: Wenn die Tiere durch einen der folgenden Zäune geschützt werden:

  • Elektrifizierte Weidenetze (Flexinetz), 90 cm hoch oder höher, mindestens 3000 V elektrische Spannung.
  • Litzenzaun mit mindestens fünf elektrifizierten Litzen (unterste Litze max. 20 cm hoch, oberste Litze mindestens 105 cm hoch), mindestens 3000 V elektrische Spannung.
  • Knotengitterzaun aussen mit zwei elektrischen Litzen verstärkt (unten 20 cm über dem Boden, oben mindestens 105 cm hoch), mindestens 3000 V elektrische Spannung.

Bei allen Zäunen gilt: Die Tiere müssen vollständig eingezäunt sein. Ausnahmen, wenn unüberwindbare natürliche Barrieren als Weidebegrenzung dienen. Alle anderen Tiere gelten als ungeschützt.

Waren die bisher gerissenen Tiere genügend geschützt?

Nein, die Tiere waren leider alle ungenügend geschützt.

Wird künftig jeder Schafhalter auch Herdenschutzhunde halten müssen, da der Wolf jederzeit und überall zuschlagen kann? Ist in Gegenwart des Wolfs überhaupt noch eine Weidehaltung, wie wir sie heute kennen, möglich?

Es gibt Gebiete in der Schweiz mit Wolfsrudeln, wo nach wie vor Schafe auf den Weiden gehalten werden.

 

Redaktorin Daniela Joder hat sich in ihrem Kommentar Gedanken zur schwierigen Situation für die Schäfeler gemacht. Es braucht künftig viel Aufklärungsarbeit bei der Bevölkerung. Zum Kommentar

 

Wurde der Wolf schon vergrämt? Wie geschieht dies? Wie wird der Wolf dafür geortet?

Nein, das ist bisher leider nicht gelungen.

Wann gilt eine Vergrämung als wirkungsvoll?

Bei der Vergrämung eines Wolfes wird auf diesen direkt eingewirkt, um somit eine Verhaltensänderung zu erwirken. Das Jagdinspektorat erhofft sich davon, dass der Wolf siedlungsnahe Gebiete künftig meidet. Wenn er dies tut, ist die Vergrämung erfolgreich.

Wann würde das Tier abgeschossen?

Die Abschussvoraussetzungen sind in Art. 9bis der Bundesjagdverordnung geregelt. Einzelwölfe dürfen abgeschossen werden, wenn sie mindestens 25 Nutztiere in einem Monat oder 35 Nutztiere in vier Monaten töten. Dabei zählen nur Tiere, die mit ausreichenden Schutzmassnahmen geschützt waren. Weitere Ausführungen dazu finden sich im Konzept Wolf des Bundes.

Würde das neue Jagdgesetz an der Situation etwas ändern? Könnte dieser Wolf mit dem vom Stimmvolk abgelehnten Jagdgesetz abgeschossen werden?

Das ist eine hypothetische Frage, die wir so nicht beantworten können. 

(Interview schriftlich geführt)

 

Der Gantrischwolf

Bereits im Sommer berichteten Landwirte und Jäger immer wieder von Wolfssichtungen auf dem Längenberg. Bereits damals zeigte sich das Tier ohne grosse Scheu in Siedlungsnähe. Gemeldet wurde dem Jagdinspektorat kaum eine dieser Sichtungen. Das Vertrauen in Bund und Kanton ist nach der Ablehnung des neuen Jagdgesetzes erschüttert.  Am 11. Oktober dann der erste Riss von Schafen in Toffen. Damals zog das Jagdinspektorat noch einen Hund als Täter in Betracht, da kein Wolf in der Gegend bekannt sei.

28 gerissene Tiere

Es folgen jedoch in kürzester Zeit neue Risse am 20., 22., 24., 29. und 31. Oktober in Rüeggisberg, Riggisberg, Schwarzenburg und Oberbalm. Dann im November weitet er sein Jagdgebiet aus, am 1., 3., 7., 11., 16., 17., 20. und 22. November werden in Rüschegg, Wimmis, Riggisberg, Kaufdorf, Thierachern und Niedermuhlern Tiere gerissen. 27 Schafe und eine Ziege fallen dem Raubtier zum Opfer. Auch zeigt sich der Wolf immer wieder in der Nähe von Menschen, wird gefilmt und fotografiert. Anfang November beschliesst der Kanton Bern, dass das Tier vergrämt werden soll. Ein Abschuss wird dabei kategorisch ausgeschlossen, da es nur ungenügend geschützte Nutztiere gerissen habe.

Einblicke ins Wolfsleben

Der Wolf im Gantrischgebiet gibt viel Anlass zu Spekulationen. Wo kam er so plötzlich her? Warum zieht es ihn immer wieder zu den Menschen? Weil das Tier so wenig Scheu zeigt, gewährt es den Menschen Einblick in sein Leben mit der Zivilisation wie kaum ein anderes zuvor. Es macht deutlich, wozu der Jäger in der Lage ist, welche Strecken er in kurzer Zeit zurücklegt, wie gross sein Hunger und seine Jagdlust ist – womit die Weidetierhaltung offenbar künftig umgehen lernen muss. Kein Wunder, hat so mancher Schäfeler schlaflose Nächte.