Aktuell übertritt der Wolf in Graubünden gefühlt jede zweite Woche eine neue rote Linie. Das jüngste Ereignis: Vor kurzem hat ein Wolf auf der Bündner Alp Grüm – immerhin ein Touristen-Hotspot mit eigenem RhB-Bahnhof – einen Spaziergänger während rund 5 Minuten verfolgt und ihn angeknurrt.

Nicht bloss ein Hund 

Liest man dazu die Kommentare unter den Online-Meldungen in diversen Schweizer Medien, ist das nicht schlimmer, als wenn einen ein Hund aus einem Vorgarten heraus anknurren würde. Dabei versetze man sich einmal in die Haut der angeknurrten Person und stelle sich vor, wie sich das anfühlen muss, wenn sich einem ein Raubtier fünf Minuten lang an die Fersen heftet. Bei jenen, die die Geschehnisse rund um den Wolf in Graubünden verfolgen, werden unangenehme Erinnerungen an den letzten Sommer wach, als eine Hirtin im Streifgebiet des Beverin-Rudels mehrmals Begegnungen auf kurze Distanz hatte. Und dennoch, aller kurzfristigen medialen Aufmerksamkeit zum Trotz: Die Begegnung auf der Alp Grüm wird in diesem Sommer wohl nur als eine Randnotiz in der langen Liste an Vorkommnissen rund um den Wolf aufgeführt.

Dass in der vorherigen Woche die Wanderwege am Schamserberg gesperrt werden mussten, weil die dortigen Viehherden durch das Beverin-Rudel aufgescheucht worden waren, ist derweil ebenfalls kaum mehr eine mediale Meldung wert. Das scheint mittlerweile schon fast zu einem Alpsommer dazuzugehören.

Das Beverin-Rudel bereitet Probleme

«Graubünden im Bann des Beverin-Rudels» könnte eine aktuelle Schlagzeile lauten. Die Wolfsfamilie hat jüngst in kurzem Abstand zwei Mutterkühe gerissen und damit für viel Gesprächsstoff gesorgt – auch in der Presse. Mit den Angriffen auf ausgewachsene Kühe habe das Geschehen rund um den Wolf «eine absolut neue Dimension» erreicht, sagte Adrian Arquint, der oberste Bündner Wildhüter, gegenüber den Medien. Im Gespräch mit der BauernZeitung wies Arquint auch darauf hin, dass das problematische Rudel aktuell viel Goodwill in der Gesellschaft verspiele. Der Fokus der Medien liege dadurch nicht darauf, dass das Zusammenleben von Mensch und Wolf vielerorts ohne grössere Probleme funktioniere, sondern vielmehr und fast ausschliesslich auf den Problemen, die durch wenige Tiere verursacht werden.

Dass das Verhalten des Beverin-Rudels problematisch ist, lässt sich nicht von der Hand weisen; das anerkennen mittlerweile auch die Naturschutzorganisationen WWF, Pro Natura und sogar die Gruppe Wolf Schweiz. Auch den Wolfs-Befürworter(innen) ist klar geworden, dass es so nicht weitergehen kann. Zu gross ist der Schaden, den das Rudel anrichtet – nicht nur in Bezug auf die gerissenen Tiere, sondern eben auch im Hinblick auf die Akzeptanz der breiten Bevölkerung. Die mag in den Kommentarbereichen gewisser Medien nämlich durchaus höher scheinen, als sie es denn tatsächlich ist.

M92 sorgt für Angst, doch er fasziniert auch

Der «Hauptakteur» im Beverin-Rudel ist dessen Leitwolf M92. Er ist ein erfahrener und schlauer Jäger, der sich durch Herdenschutzmassnahmen wenig beeindrucken und kaum aufhalten lässt. Die Palette an Emotionen, die ein solches Wildtier beim Menschen auslöst, ist breit; sogar Bündner Bauern sind hin- und hergerissen. Natürlich ist da viel aufgestauter Frust und Zorn auf den unberechenbaren Jäger, der die Nutztiere bedroht und jederzeit zuschlagen kann. Andererseits ringt M92 vielen auch Respekt und Faszination ab. Ein Bündner Bergbauer traf diesen Zwiespalt im vergangenen Jahr gegenüber der Zeitung «Tagesanzeiger» wohl recht gut, als er sagte: «So sehr ich ihn auch tot wünsche, er ist ein Siebesiech.»

Ein ganzes Rudel entfernen?

Das Problem mit M92: Auch bei den Wölfen lernen die Jungen von den Alten. Deshalb wird die Absicht der Bündner Regierung, nicht nur zwei Jungtiere aus dem Rudel zu schiessen, sondern auch den Leitwolf selber ins Visier zu nehmen, auf allen Seiten begrüsst. Allerdings scheint ein Abschuss von M92 nicht vor dem Winter möglich zu sein. Zu befürchten ist, dass der Nachwuchs bereits genug von den Alten abgeschaut hat und dass hier eine gefährliche Entwicklung gerade erst begonnen hat. Das würde in letzter Konsequenz wohl den Abschuss des ganzen Rudels erfordern – ein Schritt, den der Kanton Graubünden gerne machen würde, der aber unter der aktuellen Rechtslage nicht möglich ist.

Ein Tier begreift menschliche Absichten kaum

So viel Intelligenz oder Gefahrenpotenzial man dem Wolf zuschreiben mag, er ist und bleibt ein Tier – nicht mehr und nicht weniger. Er tut, was ihn seine Natur tun lässt. Ein Raubtier sieht eine Gelegenheit, an Futter zu kommen und ergreift sie. Es definiert sein Revier und verteidigt es. Was wir als Mensch von ihm «erwarten» und wie wir uns dieses «Zusammenleben» mit dem Wolf vorstellen, das alles passt nicht in die Logik eines Tiers. Die Lebensbedingungen, die der Wolf angesichts unserer Alpwirtschaft vorfindet, die sind schliesslich «menschgemacht» und für ein Tier nicht nachzuvollziehen. Deshalb grenzt es wahrscheinlich an Naivität, zu glauben, man könne problematische Wölfe mit sanften Massnahmen einfach ein wenig erziehen. Das stellt die Frage nach geeigneten Methoden und nach deren Effizienz. Im Fall des Beverin-Rudels gilt es aktuell, konsequent zu sein und Massnahmen zu wählen, die vielleicht drastisch, aber immerhin zielführend sind.

Im Moment bleibt nur eines: warten

Letzten Endes ist seit geraumer Zeit entschieden: Der Wolf gehört in die Schweiz, das Ziel ist eine Koexistenz. Umso wichtiger ist es, dort entschieden einzugreifen, wo das Verhalten eines Rudels diese Bestrebungen nach einem Nebeneinander vollständig in Frage stellt. Doch die Mühlen der Politik und der Bürokratie mahlen zuweilen sehr langsam. Es bleibt deshalb vorerst nichts weiter, als abzuwarten und zu schauen, wie viel Schaden noch entsteht – für die Bauern, für ihr Vieh, aber letzten Endes auch für den Wolf selbst.