Der Grundsatz, wonach der Stier «die halbe Herde» sei, war schon lange vor der flächendeckenden Einführung der künstlichen Besamung in den 1960er-Jahren anerkannt. Stiere nahmen deshalb bereits in dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Ausstellungswesen eine besondere Stellung ein.
Erste Professionalisierung
Die ersten von Kantonen initiierten Massnahmen zur Förderung der Rindviehzucht wie die Prämierungen und die Herdebuchführung waren primär auf die Verbesserung der Selektion, Haltung und Fütterung guter Zuchtstiere ausgerichtet. Und auch die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstandenen Viehzuchtgenossenschaften, die sich in den 1890er-Jahren entlang der Rassegrenzen zu nationalen Viehzuchtverbänden zusammenschlossen, konzentrierten sich anfänglich auf die Verbesserung der Zucht, Haltung und Fütterung der Stiere.
Stierenzüchter, die Prämien erhielten, wurden verpflichtet, ihre Stiere auch anderen Viehbesitzern zur Deckung zur Verfügung zu stellen. Vielerorts wurden auch Vorschriften darüber erlassen, wie viele weibliche Tiere ein Stier pro Tag höchstens belegen durfte. Die Viehzuchtgenossenschaften kontingentierten ihre besten Stiere oftmals so, dass die Besitzer der Kühe pro Anteilschein nur ein Anrecht auf eine bestimmte Anzahl Belegungen zugute hatten.
Arbeiter oder «Stallbaron»?
Bis zum Aufkommen der künstlichen Besamung wurden die Stiere auf den Höfen fast immer gemeinsam mit den Kühen gehalten. Die Gemeinden, Korporationen und Genossenschaften, die Zuchtstiere kauften, beauftragten in der Regel eines ihrer Mitglieder mit Haltung, Pflege und Fütterung eines Stiers.
Zu den grössten Problemen der mit der planmässigen Zucht grösser und schwerer werdenden Stiere gehörte ihre mangelnde Bewegung. Viele Munihalter setzten deshalb ihre Tiere bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts auch zur Leistung von Zugarbeiten ein. Als Zugtiere arbeitende Stiere galten als zutraulicher und konnten deshalb auch länger zur Zucht eingesetzt werden als «Stallbarone», die «an der Mastkrippe» zuweilen rasch verfetteten und schwierig zu halten waren.
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Zugleistung registriert
Da bis in die 1950er-Jahre bei allen Rinderrassen das Dreinutzungs-Zuchtziel «Milch, Fleisch und Arbeitsleistung» galt, war es zudem wichtig, dass die Eignung der Stiere als Vererber von allen drei Eigenschaften auch in der Praxis erprobt und beurteilt werden konnte.
Züchtete man im Einzugsgebiet des vor allem auch in den Ackerbaugebieten verbreiteten Rotfleck- und Simmentalerviehs auf ein Milch-Fleisch-Arbeits-Verhältnis von 55:25:20, so lauteten diese Verhältniszahlen beim Braunvieh, das in den stärker auf Viehwirtschaft ausgerichteten Regionen dominierte, 60:30:10. In den Herdebüchern wurde die Zugleistung der registrierten Tiere durch die Aufzeichnung der Zahl der Arbeitsstunden, der Art der Arbeit und der jahreszeitlichen Verwendung zur Arbeit registriert. Als Norm für den Arbeitstag einer Kuh galten bis zu sechs, für Zuchtstiere drei bis vier Stunden täglich.
Exotische Kolosse interessieren
Weil die in der KB eingesetzten Zuchtstiere ab den 1960er-Jahren in spezialisierten Stallungen in einigen wenigen Besamungsstationen gehalten wurden, verschwanden die Stiere auch aus dem Blickfeld der Bevölkerung. Auch die Bauern kannten sie nur noch aus dem KB-Katalog, der per Post auf die Höfe kam. In den Besamungsstationen betreuten Stierenwärter, die nicht selten vorher als Melker auf Betrieben von Munihaltern gewirkt hatten, die Stiere.
Der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt nahm die Besamungsstationen als «etwas Nordisches, Walhalla-Ähnliches» auf, die aus seuchenpolitischen Überlegungen etwas abseits der übrigen Siedlungen lagen. Das machte die «kraftstrotzenden Kolosse», die hier gehalten wurden, zu exotischen Wesen, für die sich nicht nur Züchter und Wissenschaftler aus allen Gegenden der Welt zu interessieren begannen, sondern auch die Medien und zuweilen sogar Bundesräte und bekannte Schriftsteller.
Diese wollten nicht nur wissen, wie die Tiere hier lebten, sondern auch, wer hier welche Tätigkeiten wie und zu welchen Zwecken ausführte. Dürrenmatt hätte sich am liebsten selbst «zu den Helden» gelegt, wie er nach einem Besuch im «technischen Bullenpuff» schrieb.
Rückkehr in die Dörfer
Mit dem Aufkommen der Mutterkuhhaltung ab den 1980er-Jahren kehrten Stiere in die Dörfer zurück. Heute laufen Stiere zudem auch vermehrt in Herden von grösseren Milchviehbetrieben mit. Aber die zur Zucht von Milchkühen eingesetzten Stiere sieht kaum jemand mehr in Natura. Nicht nur, weil sie nach wie vor in KB-Stationen leben, sondern auch, weil sie oft schon lange tot sind, wenn ihr Sperma in der Zucht eingesetzt wird.