Vor rund zehn Jahren kaufte Remo Christen seine ersten 25 Engadinerschafe, mittlerweile nennt der Landwirt aus Hospental über 330 Tiere dieser Pro-Specie-Rara-Rasse sein Eigen. «Ich war damals auf der Suche nach einem widerstandsfähigen, robusten und vor allem charakterstarken Schaf», begründet der 60-Jährige seine Rassenwahl. Ein weiterer wichtiger Grund war auch, dass er dank der Vorzüge der Engadinerschafe seinen Familienbetrieb strategisch neu ausrichten und gleichzeitig auch an eine nachhaltige und zukunftsträchtige Bewirtschaftung des Urserentals beitragen wollte. [IMG 2]

Lebensgrundlage für die kommende Generation erhalten

Die Engadinerschafe haben als besondere Eigenschaft eine grosse Vorliebe für das Schälen der Rinde von Holzpflanzen. Und Sträucher, vor allem Grünerlen, hat es im Urserental viele. «Damit wir durch die Verbuschung nicht noch mehr Weideflächen verlieren und unsere Nachkommen zukünftig ebenfalls noch eine Lebensgrundlage haben, muss die weitere Ausbreitung der Grünerlen gestoppt werden», betont Remo Christen. Sonja und Remo Christen werden ihren Hof voraussichtlich an ihren Sohn Remo Christen junior weitergeben; ihre beiden Töchter Maria und Eliane sind ebenfalls oft auf dem Betrieb anzutreffen.

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Schafbauer Christen hat bei der Grünerlenbekämpfung viel Erfahrung. Die Rinde der Grünerlenäste wird durch die Engadinerschafe abgeschält, die geschädigten Pflanzen vertrocknen und sterben ab. Stark verbuschte Flächen müssten mehrere Jahre lang mit den Schafen bestossen werden, danach sei auf geeigneten Parzellen wieder eine Beweidung durch Rinder möglich. Im Gegensatz zum Abschneiden, wo die Grünerlen schlimmer als Rosenstöcke wieder stark austreiben, würden diese nach dem Verbiss durch die Schafe nicht nachschiessen.

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Sehr aufwendige Zaunarbeit in von Grünerlen durchwachsenen Weiden

Die Engadinerschafe der Familie Christen weiden fast ausschliesslich auf von Grünerlen stark durchwachsenen Weiden. Einerseits auf eigenen oder zugepachteten Flächen, andererseits immer häufiger auch auf stark verbuschten Flächen anderer Landbesitzer. Ein Studienprojekt (siehe Kasten unten) habe gezeigt, dass die Grünerlenbekämpfung durch die Engadinerschafe aus mehreren Gründen sehr nachhaltig sei. Die damit verbundene Zaunarbeit sei allerdings enorm. Grosse Unterstützung erhält Familie Christen von Botanikerin Erika Hiltbrunner, die im Urserental die Pilotstudie machte. «Erika Hiltbrunner unterstützt uns mit Helfern bei der aufwendigen Zaunarbeit», so Remo Christen.

Zutrauliche Tiere erleichtern Arbeit

Um eine neue stark verwachsene Fläche einzuzäunen, auf der seine 330-köpfige Herde rund zwei Wochen zu fressen habe, benötige es 30 bis 40 Schafnetze à 50 Laufmeter. «Bevor wir die Netze stellen können, müssen wir entlang der Weidefläche einen zwei Meter breiten Streifen von den Grünerlen befreien. Dadurch können wir erstens die Netze ausbruchsicherer aufstellen und zweitens werden diese dann auch von Wildtieren besser gesehen und wirken durch die hohe Zaunspannung abschreckend», begründet Christen die aufwendige Zaunarbeit. Tiere und Zäune werden täglich, teils auch mit Drohnen, kontrolliert. Das nicht nur aus dem Grund, dass infolge unwegsamen Geländes oder offen gelassener Weidetore auch ab und zu Tiere ausbrechen, sondern auch wegen der zeitweisen Grossraubtierpräsenz. «Zudem ist es uns wichtig, dass die Tiere auch auf der Sommerweide zutraulich bleiben. Das erleichtert die Arbeit mit ihnen enorm», so der erfahrene Schäfer. Für seine Zuchtarbeit kauft Remo Christen immer reinrassige Zuchtböcke. In den vergangenen zehn Jahren wurden fast alle weiblichen Nachkommen für den Herdenaufbau benötigt.

600 Engadinerschafe als Ziel

Das wird noch eine Zeit lang so bleiben, liegt doch der Zielbestand bei rund 600 Engadinerschafen. Die männlichen Jungtiere werden als Schlachtlämmer teils direktvermarktet, teils über die Schafannahme verkauft. Die Lämmer der Engadinerschafe benötigen zwar bis zur Schlachtreife etwas mehr Zeit als das Weisse Alpenschaf, das Fleisch ist aber vergleichsweise fettarm und erinnert im Geschmack eher an Wildfleisch. Die Grünerle sei im Gegensatz zu vielen anderen Holzgewächsen für die Schafe ein gutes und vor allem im Sommer ein nährstoffreiches Futter. Für eine optimale Versorgung der Tiere sollte aber rund ein Drittel der aufgenommenen Trockensubstanz dennoch Gras sein.

Grünerlenprojekt: Mit Engadinerschafen gegen die Verbuschung

In ihrem fünfjährigen Pilotprojekt (2017–2021) konnte die Schweizer Botanikerin Erika Hiltbrunner von der Universität Basel aufzeigen, dass die Verbuschung durch Grünerlen mit Engadinerschafen einfach und effi­zient bekämpft werden kann. Auch stark verbuschte Flächen können gemäss dieser Studie mit einer Herde Engadinerschafe innert vier Jahren wieder geöffnet werden. Dichte Grünerlengebüsche hätten neben dem Verlust von Weideflächen noch weitere ökologisch negative Auswirkungen. Unter dichten Grünerlenbeständen finden sich gemäss der Studie 62 Prozent weniger Pflanzenarten als in offenem Grasland. Diese starke Artenabnahme mit zunehmender Grünerlendeckung wird auch durch die Symbiose der Grünerle mit stickstofffixierenden Bakterien erklärt. Dadurch tragen die Grünerlen quasi ihren Stickstoffdünger bei sich und verteilen ihn auch in ihrer Umgebung. Da die N-Fixierung der Grünerlen unabhängig vom Stickstoffgehalt im Boden weiterläuft, kommt es auf Flächen mit vielen Grünerlen zu bedeutenden Stickstoffverlusten.

Grössere Verdunstung
Auch die Wasserbilanz auf solchen Parzellen ist demnach schlechter. Grünerlengebüsche geben zusammen mit ihren Pflanzen im Unterwuchs mehr Wasser über die Blattverdunstung ab als eine Weide oder Wiese. Dadurch fliesse weniger Wasser in den Boden, das dann zum Beispiel für die Wasserkraftenergie fehlt. Überziehen Grünerlengebüsche ganze Talflanken, verhindern diese, dass sich der Gebirgswald etablieren kann, da alle hiesigen Baumarten Lichtkeimer sind. Auch im Zusammenhang mit Lawinen haben Grün­erlen negative Auswirkungen. Bei viel Schnee werden die biegsamen Büsche vollständig niedergedrückt und bilden dadurch im Gegensatz zu Bäumen keinen Widerstand. Durch die Wuchsform der Grünerlenbüsche kommt es zudem oft zu Rissen und Erosionen im Oberboden. Begleitet von starken Niederschlägen können dadurch ganze Grünerlenpakete zusammen mit dem wertvollen Oberboden abrutschen.

Das Schaf aus dem Engadin
Die unbehornten Engadinerschafe sind leicht zu erkennen: Sie tragen die typischen Hängeohren, haben einen ausgeprägt gewölbten Nasenrücken und sind vergleichsweise gross. Heute ist der fuchsbraune Farbschlag am häufigsten, aber auch schwarze Tiere trifft man hie und da an. Das Engadinerschaf verfügt über starke Klauen, gilt als robust und sehr fruchtbar. Es hat eine überdurchschnittlich hohe Anzahl Lämmer pro Jahr. Die Tiere sind sehr zutrau­liche Wesen und gelten als geschickt und trittsicher. Sie überzeugen mit guter Widerstandskraft, benötigen aber etwas länger, um das Schlachtgewicht zur erreichen. Die Herdebuchtierzahlen der Pro-Specie-Rara-Rasse liegen bei rund 3500 Tieren, Tendenz steigend. Pro Specie Rara/reb [IMG 4]