Dass der kleine Vogel auf dem Bild oben keine Schwanzfedern hat, liegt nicht an seinem Alter. «Wahrscheinlich ist er knapp einer Katze oder einem Sperber entwischt», mutmasst Livio Rey von der Vogelwarte Sempach. Die Federn werden aber bei der nächsten Mauser wieder nachwachsen, beruhigt der Ornithologe. Und auch ohne Schwanzfedern sei ein Vogel flugfähig.

Signal an die Eltern

Dass es sich um einen Jungvogel handelt, erkennt man vor allem an den gelben Schnabelwülsten. Wie der rote Rachen von Nestlingen wirken sie auf die Elterntiere als Signal: Hier wird Futter gebraucht. «In diesem Alter wird ein Vogel von seinen Eltern noch ausserhalb des Nests versorgt», erklärt Livio Rey. Sich Sorgen machen und den Jungvogel in fachkundige Pflege geben müsse man nur, wenn das Tier noch nicht vollständig befiedert ist. Dann hat der Vogel definitiv zu früh sein Nest verlassen.

«Sie sitzen hoch oben in den Wipfeln.»

Ornithologe Livio Rey über den bevorzugten Platz von Singdrosseln.

Im Fall der abgebildeten Singdrossel war es ein typisches Napfnest. Geformt wie eine Müeslischale aus Zweigen, Moos und Gräsern, macht es seine Auskleidung aus feuchter Erde, vermodertem Holz, Lehm und Speichel zu einem besonderen Kunstwerk. Singdrosseln bauen jedes Jahr ein neues Nest, bevorzugt stammnah in einer Tanne oder Fichte. Als Sitzwarte schätzt die Vogelart hohe Bäume. «Hoch oben in den Baumspitzen singen diese Drosseln ausdauernd und melodisch», beschreibt Rey. Das erklärt den deutschen Namen Singdrossel genauso wie die lateinische Bezeichnung Turdus philomelos, was sich mit «singfreudige Drossel» übersetzen lässt.

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Ein besonderer Stein

«Man hört den Gesang oft», fährt Livio Rey fort. Erkennbar ist er daran, dass die Singdrossel ein Element jeweils einige Male wiederholt, um es anschliessend zu wechseln. Neben ihrem Nest und dem markanten Gesang hat die Singdrossel eine weitere Eigenart: Um ihrer Vorliebe für Häuschenschnecken zu frönen, schlägt sie ihre Beute gegen einen Stein. Da sie dafür immer wieder denselben Stein aufsucht, sammeln sich die leeren Gehäusereste rundherum und man spricht von einer «Drosselschmiede». Allzu wählerisch geben sich die Vögel allerdings nicht und ergänzen ihren Speiseplan mit Insekten, Würmern und Beeren.

Stadtvogel geworden

Abo Als Samenfresser ist der Stieglitz überall dort anzutreffen, wo er Sämereien findet. Dabei ist er nicht besonders wählerisch und pickt mit seinem spitzen Schnabel zum Beispiel Sonnenblumenkerne aus dem Blütenstand. Wildtier im Porträt Der Stieglitz – ein farbenfroher und ruffreudiger Fink Thursday, 21. September 2023 Da es sich bei Turdus philomelos – zumindest in der Schweiz – um einen ausgesprochenen Waldvogel handelt, findet man Drosselschmieden sehr selten in einem Garten. In Deutschland oder Österreich wurden Singdrosseln aber schon zu Stadtvögeln. «Dort gibt es viel grössere Parks und Friedhöfe», erklärt Livio Rey. Da sei die Hürde für ein Leben in der Stadt weniger hoch als in der Schweiz und mit der Zeit haben Singdrosseln in unseren Nachbarländern ihre Scheu vor Menschen verloren.

Unabhängig davon, wo sie ihr Napfnest bauen, hinein legen die ausdauernden Sänger leuchtend blaue Eier. Livio Rey hat keine direkte Erklärung für diese Farbe. Im Gegensatz zur Singdrossel würden aber Höhlenbrüter oder Vogelarten mit geschlossenen Nestern eher helle Eierschalen aufweisen. Für Experten schwierig zu erklären ist weiter die erfreuliche Zunahme der Singdrosselbestände hierzulande. Man führt das einerseits auf wachsende Waldflächen zurück. Andererseits könnte es einen Zusammenhang damit haben, dass es auch mehr Gehäuseschnecken gibt.

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Nachts in den Süden

Zwar hinterlassen Singdrosseln mit ihren Schmieden leicht zu deutende Spuren, es sind aber ziemlich heimliche Vögel. Bei einem Waldspaziergang hört man sie eher, als dass man sie zu Gesicht bekommen würde. Dafür findet man vielleicht eine der Federn, die auf der Brust einer Singdrossel zum charakteristischen Muster aus pfeilförmigen Punkten beiträgt. In den Süden ziehen diese Vögel – heimlich, wie es ihre Art ist – nachts.

 

Kennen, was man schützt

Egal ob im Kulturland oder im Wald, Biodiversität gibt es überall. Deren Schönheit zeigen wir in Zusammenarbeit mit dem Bündner Wildtierfotografen Charly Gurt. Seine Bilder machen deutlich, weshalb sich die Bemühungen zum Schutz der Artenvielfalt und der Lebensräume lohnen.